VII.
Die Vision des Adamnán.
1. Dieser Text wird hier aus zwei Handschriften mitgetheilt:
¹) aus dem Lebor ua hUidre (circa 1100 geschrieben, s. oben S. 114), im Facsimile p. 27–31;
²) aus dem Lebor Brec, einer Handschrift aus dem Ende des 14. Jahrhunderts, die sich gleichfalls im Besitz der Royal Irish Academy zu Dublin befindet, und gleichfalls in Facsimile publicirt worden ist[1], im Facsimile p. 253–256.
Der Text des Lebor na hUidre ist bereits von Stokes edirt, mit englischer Uebersetzung und mit werthvollen Anmerkungen, Simla 1870 (s. Gramm. Celt.² p. XL). Da diese Ausgabe sehr selten ist – „Fifty copies privately printed“ steht auf dem Titel –, so wird ein neuer Abdruck nicht unnöthig sein. Nach Stokes existirt derselbe Text in einer Handschrift der Pariser Bibliothek, Ancien Fond, No. 8175.
2. Die Fís Adamnáin gehört zu den merkwürdigsten Producten der altirischen christlichen Literatur. Den Ausgangspunkt bilden die (in LBr. weitläufiger commentirten) Bibelworte: Magnus Dominus noster, et magna virtus ejus, et sapientiae ejus non est numerus. Suscipiens mansuetos Dominus humiliat autem peccatores usque ad terram (Psalm 147, Vers 5 und 6). Die Belohnung der Guten und die Strafe der Bösen [ 166 ]wird veranschaulicht durch das, was Adamnán einst gesehen hat. Denn die Geheimnisse von Himmel und Hölle wurden den Aposteln und anderen Heiligen geoffenbart, zuletzt aber dem Adamnán. Am Feste Johannis des Täufers verliess dessen Seele ihren Körper, und schaute, geführt von ihrem Schutzengel, zuerst das himmlische Königreich (Cap. 4) und dann die Hölle (Cap. 21). Beide Reiche werden ausführlich geschildert, denn ehe die Seele in ihren Leib zurückkehrte, erhielt Adamnán den Auftrag vor Mönchen und vor Laien zu predigen, was die Guten und was die Bösen im jenseitigen Leben erwartet. Davon predigte Adamnán in der grossen Versammlung, als das Gesetz des Adamnán eingeführt wurde, davon predigte früher Patraic, davon predigten Petrus, Paulus und die übrigen Apostel, davon Pabst Silvester in der grossen Versammlung, in welcher er Rom von Constantin erhielt, davon Fabian, der den Kaiser Philippus bekehrte, davon Eli unter dem Baume des Lebens im Paradiese (Cap. 31 ff.). Auf die vielfachen Beziehungen dieses Tractats zu Dante’s Divina Comedia hat bereits Stokes hier und da hingewiesen.
3. Wenn Stokes auf die grammatischen Eigenthümlichkeiten aufmerksam macht, welche den uns vorliegenden Text als Mittelirisch charakterisiren[2], und aus diesem Charakter der Sprache schliesst „The piece cannot therefore be older than the eleventh century“, so ist dieser Schluss nicht richtig. Da wir wissen, dass die irischen Texte von jedem neuen Abschreiber [ 167 ]mehr oder weniger consequent in die Sprache seiner Zeit um geschrieben wurden, so kann aus der Sprachform nicht das wirkliche Alter eines Prosatextes bestimmt werden. Einen gewissen Anhalt für das Alter unseres Textes bietet Adamnán’s Name. Adamnán[3] war der zehnte Abt von Iona nach Colum Cille, und starb nach den Annals of the Four Masters im Jahre 703 (O’Curry, On the Ms. Mat. p. 342). Aber unser Text tritt nicht als das Werk des Adamnán auf, sondern er enthält nur als Kern eine Erzählung dessen, was Adamnán auf Grund der ihm gewordenen Offenbarung zu predigen pflegte. Dass der Verfasser der Zeit Adamnán’s ferner stand, geht daraus hervor, dass er (Cap. 32) den König Finnachta Fledach an dem sogenannten Gesetze des Adamnán betheiligt sein lässt, während dieses Gesetz erst nach Finnachta’s Tode eingeführt worden sein soll.[4]
Ebenso spricht gegen ein höheres Alter, wenigstens der letzten Theile unseres Textes, die Erwähnung der Fabel (Cap. 32), dass Rom bereits von Constantin dem Pabste geschenkt worden sei. Diese Fabel kam erst im 8. Jahrhundert auf.[5] Dagegen würde die Erwähnung des Zehnten (Cap. 25) nicht unbedingt gegen das 8. Jahrhundert sprechen, wenn derselbe auch erst nach 703 in Irland eingeführt worden ist, wie Stokes (nach Reeves) hervorhebt. Alle diese Punkte sind bereits von Stokes, theils in der Preface, theils in Anmerkungen zu den betreffenden Stellen, besprochen worden. Immerhin beweisen aber auch diese Dinge nicht, dass unser Text erst im 11. Jahrhundert entstanden sei. Warum nicht im 10. oder im 9. Jahrhundert?
Nicht zu verwechseln mit dieser Fís Adamnáin ist eine andere Visio quae vidit Adamnanus vir spiritu sancto plenus, die [ 168 ]Prophezeiung einer schrecklichen Seuche, von welcher O’Curry, On the Ms. Mat. p. 424 handelt. Der lateinische Text mit dem irischen Commentar findet sich im Lebor Brec, p. 258b bis p. 259b.
4. Meine Ergänzung der handschriftlichen Abkürzungen ist nur in folgenden Fällen nicht durch den Druck kenntlich gemacht (vgl. oben S. 66): 1) in ocus, in beiden Handschriften nur einige wenige Male plene ocus geschrieben; 2) in for, gewöhnlich durch f mit einem Strich darüber bezeichnet; 3) in acht, besonders in LBr. sehr oft durch s mit einem Strich darüber ausgedrückt, sei es nun die mit lat. sed gleichbedeutende Conjunction acht, oder nur die Buchstabencombination acht innerhalb eines Wortes (z. B. cumachta). Dagegen ist durch cursiven Druck angedeutet, wenn in LBr. die Silbe et innerhalb eines Wortes (z. B. forcetul) durch das Zeichen für die lat. Conjunction et ausgedrückt ist, weil dieses Zeichen LBr. p. 254b, 24 auch für die Silbe ed in medon gebraucht ist.
Von graphischen Eigenthümlichkeiten in LBr. ist noch zu erwähnen: 1) die Abkürzung für lat. autem (h mit einem Haken oder Strich) findet sich oft da, wo LU. im. (d. i. immorro) hat; 2) das Längezeichen wird über positione lange Silben gesetzt (z. B. múintir); 3) f mit einem Punkte oder dem Aspirationszeichen darüber bezeichnet nicht nur den nach Vocalen eintretenden Wegfall dieses Lautes, sondern auch die tönende Aussprache desselben, die durch ursprünglich nasalen Auslaut des vorhergehenden Wortes bedingt ist. Um Missverständnissen vorzubeugen führe ich nur hier die einzelnen Fälle an, und lasse sie im Texte unbezeichnet: co ḟlescaib, co ḟleisc p. 254b lin. 52 und 84 (Cap. 15, 18); i ḟilet p. 254a lin. 31 (Cap. 4), i fhiadnaise p. 254a lin. 50 und 64, p. 254b lin. 58 (Cap. 6, 7, 16), i fhocus p. 255a lin. 54 (Cap. 25), tresan fhial n‑gloinide p. 255b lin. 85 (Cap. 32); na ḟial sin (Gen. PI.) p. 254b lin. 36 (Cap. 14), a ḟulang (Pron. poss. Plur.) p. 255a lin. 70 (Cap. 26); i toltnaigi fhognuma p. 255a lin. 45 (Cap. 23). Ebenso findet sich vereinzelt p. 253b lin. 51 docum ṫalman. In moderner Orthographie würde man schreiben: co bh‑flescaib, dochum d‑talman.