Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen (1998)/21

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Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen  (1998)  by [[Author:{{{author}}}|{{{author}}}]]
Höhenangst, Höhenlust. Zur Figur des Gemsjägers im 18. Jahrhundert
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[ 267 ]HÖHENANGST, HÖHENLUST ZUR FIGUR DES GEMSJÄGERS IM 18. JAHRHUNDERT


Andreas Bürgi


Résumé


Peur de la montagne, exaltation de la montagne. À propos de la figure du chasseur de chamois au 18e siècle


De nombreux textes scientifiques et littéraires du 18e siècle consacrés à l’exploration des Alpes s’arrêtent avec force de détails au chamois et au chasseur de chamois. Cette attention est sans commune mesure avec le peu d’importance que revêtaient le chamois pour l’alimentation et sa chasse pour l’économie alpine. L’examen de ces textes révèle que le chasseur de chamois est en fait une construction anthropologique de l’élite intellectuelle du bas pays, et qu’il est par conséquent une fiction qui remplit différentes fonctions dans le contexte de la conquête de la haute montagne. Il est le prototype de l’homme alpin et a de ce fait une fonction d’exemplarité supérieure à celle de tous les autres habitants des Alpes. Sur le plan mental, il ouvre la haute montagne à l’élite intellectuelle en montrant qu’il est possible d’y survivre. En même temps, il préserve le côté mystérieux de cet espace, en transposant des peurs traditionnelles devant la haute montagne à celles, nouvelles, que ressent l’élite intellectuelle face aux Alpes.


Drei Figuren lässt Friedrich Schiller zu Beginn seines «Wilhelm Teil» auftreten, einen Fischer, einen Hirten und einen Alpenjäger.[1] Sie repräsentieren das Volk der Urschweiz, darüber hinaus aber auch die drei Zonen des Alpenraums: die Gewässer am Fuss der Berge, die Alpweiden und die «Eisgebirge», wie man im 18. Jahrhundert die Region der Gletscher und des ewi[ 268 ]gen Schnees bezeichnete. Diese Dreiteilung der Gebirge stammt aus der antiken Dichtung und wurde im Zusammenhang mit der Neubewertung des Gebirges im Verlaufe des 18. Jahrhunderts auch auf die Alpen angewendet, etwa in Gottlieb Sigmund Gruners Briefen «Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens».[2] Grüner schildert darin eine Reise durch die Schweiz, die sich, gänzlich ungewohnt für das zeitgenössische Publikum, auf einer Höhe von 3000 und mehr Metern abspielt. Dem imaginären Adressaten gegenüber äussert Grüner denn auch immer wieder seine Besorgnis darüber, dass diesem die endlosen Schilderungen von Schnee, von Gletschern und Eis, von Kälte und Steinwüsten abstossend erscheinen möchten und er ein völlig einseitiges Bild der Schweiz erhalten könnte. Im letzten Brief gibt er sich daher alle Mühe, einen solchen Eindruck zu korrigieren und betont: «Sie werden es mir aber kaum glauben, wenn ich Ihnen bezeuge, dass es ein fruchtbares Land ist, welches nebst den vielen Eisgebirgen die schönsten und fettesten Alpen hat; so dass es vermittelst derselben im ganzen betrachtet, durch die Eisgebirge wenig verliert.»[3]

Diese Relativierung bringt nur allzu deutlich die Unsicherheit darüber zum Ausdruck, was der Mensch in den obersten Regionen der Alpen verloren habe. Anders als Schiller, der mit der Begegnung von Fischer, Hirte und Alpenjäger die Einheit des Alpenraums hervorhebt, bringt Grüner zum Ausdruck, dass die oberste Zone der Alpen von den zwei unteren noch weitgehend isoliert war. Tatsächlich spielte sich die Entdeckung der Alpen, wie sie von der europäischen Intelligenz im Gefolge Albrecht von Hallers und Jean Jacques Rousseaus vollzogen wurde, in der ersten und zweiten Zone ab, die dritte, die Eisgebirge, geriet noch kaum in den Blick.

Anderseits aber stösst man in zeitgenössischen Texten - naturkundlichen, literarischen und philosophischen - immer wieder auf drei Figuren, die ihre Existenz oder einen Teil davon von den Produkten gerade dieser Region bestreiten. Es sind dies der Wildheuer, der die am höchsten gelegenen Grasvorkommen ausbeutet, der Strahler, der in kaum zugänglichen Berghöhlen nach Kristallen sucht, und der Jäger, der im Hochgebirge den Gemsen nachstellt. Von allen dreien wurde ihm die grösste Aufmerksamkeit zuteil. Nimmt man sie zum Massstab, so muss man davon ausgehen, dass der Gemsjäger innerhalb der alpinen Gesellschaft eine besondere Stellung einnahm. Allerdings belehrt einem ein auch nur flüchtiger Blick in die einschlägigen geographischen Werke des 18. Jahrhunderts, dass seiner Tätigkeit für Ökonomie und Gesellschaft der schweizerischen Alpenregionen nur marginale Be[ 269 ]deutung zukam, und ebenso unbedeutend war die Zahl derer, die sich damit abgaben.Cite error: Invalid <ref> tag; refs with no name must have content Warum also spielte der Gemsjäger im 18. Jahrhundert eine derart herausragende Rolle?

In der wissenschaftlichen Literatur des 18. Jahrhunderts tritt der Gemsjäger zuerst in Johann Jakob Scheuchzers «Seltsamer Naturgeschichten des Schweizer-Landes Wöchentliche Erzehlung» in Erscheinung, einem Periodikum, das der Zürcher Naturforscher zwischen 1705 und 1707 schrieb und herausgab und das einen Wendepunkt in der Betrachtung der alpinen Natur markiert.[4]

Das zeigt sich unter anderem auch in einem Artikel über die Gemskugeln, worin Scheuchzer mit althergebrachtem Aberglauben über alle möglichen Wunder- und Heilwirkungen dieser manchmal in Gemsmägen gefundenen Kugeln aufräumt.

Gut zehn Jahre vor Scheuchzers Artikel war mit Adam Lebwalds «Damographia» die bislang umfassendste Schrift über die Gemse erschienen; noch rund die Hälfte davon war «der Crafft / und Tugent-vollen Gemsen-Kugel» gewidmet.[5] Völlig konform mit der Tradition, versäumt Lebwald es nicht, zu Beginn seines Textes den antiken und neuzeitlichen Autoritäten - Plinius, Scaliger und Aldrovandus - seine Referenz zu erweisen. Unter den zeitgenössischen Werken rühmt er die 1668 erschienene «Dissertatio Medico-Philosophico de Aegagropilis» von Georg Hieronymus Welsch als Standardwerk.[6]

Gerade von diesem Buch hält Scheuchzer gar nichts. Welschs Aussagen über die Heilkraft der Gemskugeln «in denen Zuständen des Haubts / der Augen / der Lungen / des Herzens / des Magens / Leber / Nieren / Mutter / Nerven / und anderen Gliederen mehr» verhöhnt er mit den Worten: «Es lasset sich /sag ich / solches wol sagen / und schreiben / wie dann Velschius einen langen Rodel hat von gar vilen Zuständen des Menschlichen Leibs / in welchen die Gemskuglen dienlich seyn: Aber / wann man von dem Gebrauch selbs / oder der Practic / wil reden / so thun sich erst dann die schwerigkeiten hervor. In Discursen und Schriften lassen sich die schwersten Krankheiten / die fallende Sucht / allerhand andere Gichter / Wassersucht / Schlagfluss / rc. curieren / aber nicht allezeit in der That.»[7]

Vollends entrüstet zeigt sich Scheuchzer über die Behauptung, Gemskugeln schützten vor Verletzungen durch Gewehrschüsse, weshalb Gemskugeln insbesondere von Soldaten gesucht waren und ihnen für viel Geld verkauft wurden. Diese Eigenschaft lehnt zwar bereits Lebwald ab,[8] doch wie für die älteren Autoren ist auch für ihn die Gemskugel noch immer eine «Pana[ 270 ]caea».[9] Nur rund ein Jahrzehnt später ist mit Scheuchzers Artikel das Thema Gemskugeln wissenschaftlich erledigt. Zwar spukt es auch in den Texten der Folgezeit noch herum, fortan jedoch nur noch unter den Vorzeichen des Betrugs und des Aberglaubens.

Scheuchzer war aber nicht nur Naturforscher, er verfügte vor allem auch über beachtliche schriftstellerische Qualitäten. Was er an der Überlieferung als richtig erkannt hatte,[10] verwob er mit eigenen Beobachtungen und schuf so über einen Gegenstand eine neue Erzählung. Das zeigt sich gerade an der Figur des Gemsjägers, die ganz und gar seine Schöpfung ist. Texte und Motive aus dem 16. und 17. Jahrhundert verknüpfte er mit Erkenntnissen, die er auf seinen Bergreisen gewonnen hatte, und fügte so bislang vereinzelte Momente zu einer kohärenten Figur, deren Leben und Tätigkeit man sich folgendermassen vorzustellen hat: Der Gemsjäger ist mit einem rauhen Mantel, guten Schuhen, Steigeisen, einer Flinte und wenig Mundvorrat ausgerüstet, wenn er, bei jedem Wetter, ins Gebirge geht. Seine Tätigkeit ist höchst unsicher, denn die Gemse ist sehr scheu und bemerkt ihre Feinde sofort. Daher ist seine Mühe nur selten von Erfolg gekrönt; meist läuft er vergeblich durchs Gebirge, übernachtet bei Regen und Kälte in Höhlen und unter Felsvorsprüngen, wenn’s gut geht, kann er auf einer Alp bei einem Senn Unterkommen. Dabei ist gerade die Gemsjagd die gefährlichste Jagd überhaupt, führt sie doch in die höchsten Regionen der Gebirge, in Schneefelder und auf kaum begehbare Gletscher. Nur zu oft passiert es, dass der Jäger in eine Spalte stürzt, dass er sich im Eifer der Jagd in den unzugänglichsten Felsen versteigt und weder vorwärts noch zurück weiss. Da kann es dann geschehen - und diese Behauptung erregte in der Folge beim Publikum die allergrössten Angst- und Lustgefühle -, dass er sich nicht mehr anders zu helfen weiss, als sein Messer zu nehmen, Handflächen und Sohlen aufzuschneiden, um mit dem herausfliessenden Blut sich am Berg festzukleben. Gelingt es ihm dennoch, eine Gemse zu schiessen, kann es passieren, dass sie vor seinen Augen in einen unzugänglichen Abgrund stürzt und die ganze Mühsal wieder vergeblich war. Schliesslich kann auch die Gemse selber den Jäger in den Abgrund stürzen. Wird sie nämlich derart in die Enge getrieben, dass ihr kein anderer Ausweg bleibt als jener, den der Jäger besetzt hält, dann springt sie voller Verzweiflung auf den Jäger zu, und wenn dieser sich nicht nahe an den Fels drückt und sie vorbeilässt oder sich auf den Boden legt, damit sie über ihn hinwegsetzen kann, wird er von der fliehenden Gemse unfehlbar in den Abgrund [ 271 ]gedrängt. Stärker als jedes andere ist dieses Leben beständig vom Tod über-schattet, dabei eine einzige Folge von Vergeblichkeit und Entbehrungen.[11]

Wie zur Krönung all dessen, was er über die Gemsjägerei schreibt, erzählt Scheuchzer in einer der letzten Nummern seiner Zeitschrift noch das Schicksal von Caspar Störi aus dem glarnerischen Schwanden. Dieser war auf der Gemsjagd in eine Gletscherspalte gefallen. Bis zum Bauch war er ins eiskalte Schmelzwasser getaucht, mit dem Rücken und seinen Armen stützte er sich an den Eiswänden der Spalte ab, um nicht vollends ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. So musste er lange Zeit ausharren, bis seine Gefährten mit einem Seil kamen, das sie aus einer alten, in Streifen geschnittenen Decke zusammengeknüpft hatten. Damit zogen sie Störi hoch, bis kurz vor den Rand der Spalte. Dann riss das Seil, und zwar so, dass zusammen mit Störi der längere Teil in die Spalte zurückfiel. Dabei brach sich Störi den Arm und glaubte nun, es sei endgültig um ihn geschehen. Doch seine Gefährten gaben nicht auf. Sie schnitten aus dem Rest noch dünnere Streifen und verknüpften sie erneut, bis das Seil lang genug war, um Störi endlich aus seiner Lage zu befreien.[12]

Mit dieser Geschichte glückte Scheuchzer ein Wurf, der an Dramatik nicht mehr zu überbieten war und an dem sich künftig alle Berichte von Gemsjägerabenteuern zu messen hatten. Die Geschichte machte das ganze Jahr-hundert lang Furore und wurde in allen einschlägigen Schriften zitiert. Mit seinen Beiträgen in den «Naturgeschichten» hatte Scheuchzer nicht nur erzählerisch alle Elemente vereinigt, die diese Figur auch in der Folgezeit auszeichneten, er konnte darüber hinaus - weil er nicht als Erzähler, sondern als Naturforscher auftrat - für sich auch die Glaubwürdigkeit dessen beanspruchen, der von überprüfbaren Fakten handelt.

Neben einer neuen naturgeschichtlichen begann sich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auch die ästhetische Betrachtungsweise des Hochgebirges herauszubilden. Auch sie stand im Zusammenhang mit dessen erst zaghaft einsetzender Neubewertung. Noch sehr deutlich ist in der 1670 erschienenen Beschreibung des Landes Glarus von Heinrich Pfändler die Abscheu und die Furcht vor den «grausamen Bergen» spürbar, doch fast trotzig he isst es auch: «Nun seyen diese hohe Berge diss Landes Glarus so rauh und wild sie wollen / so sind sie dannoch 1. Lieblich. 2. Nützlich.»[13] Und Pfändler hängt die Frage an: «Was ist nun aber Lieblichers / als anschawen die Gembsen / mit ihrem schnellen Lauff?» Lieblich sei die Gemse, weil sie schon in der [ 272 ]Bibel, etwa in den Psalmen Davids, erwähnt werde, weil sie wild und nicht zähmbar sei, weil sie stark und listig sei, weil ihr Fleisch gut schmecke und weil sie schliesslich in grösser Zahl vorkomme.[14]

Das hier noch sehr vage formulierte ästhetische Urteil - 100 Jahre später würde man es sich entschieden verbitten, in Fragen des ästhetischen Geschmacks auch den Gaumen und die Bibel entscheiden zu lassen - über die Gemse und die Alpenfauna überhaupt vermischte sich in der Folgezeit mit den naturgeschichtlichen Beschreibungen, wie sie nach Scheuchzers Artikeln immer häufiger erschienen. Beide waren Voraussetzungen für die breite Aufmerksamkeit, die der Gemse und dem Gemsjäger in der Schriftstellerei des 18. Jahrhunderts zuteil wurden. Dieses Interesse dauerte bis ziemlich genau um 1800, als Heinrich Ludwig Lehmann in seiner Beschreibung von Graubünden mit unverkennbaren Anzeichen des Überdrusses festhielt: «Von der Gemse haben schon so viele geschrieben und haben fast alle Reisende, welche von der Schweitz schreiben, ein so langes und breites geschwatzt, dass ich die Geduld meiner Leser zu ermüden besorgen müsste, wenn auch ich hier meine Erfahrungen wiederkäuen, meine kleine Belesenheit auftischen wollte.»[15]

Lehmanns Bemerkung zeigt, dass Ende des Jahrhunderts das Interesse an Gemse und Gemsjägerei am Abflauen war, und dies bestätigen auch zwei Texte, die das Thema, wie es die Autoren im 18. Jahrhundert beschäftigt hatte, abschliessend darstellten.[16] Kurz nach der Jahrhundertwende lassen Schriftsteller wie der Volkslieddichter Gottlieb Jakob Kuhn oder Johann Jakob Reithard mit ihren sentimentalen Gedichten und Liedern bereits die biedermeierliche Sicht auf die Hochgebirgsjagd erkennen.[17]

Es waren - soviel lässt sich festhalten - die Naturforscher, die Reisenden und Literaten, die im 18. Jahrhundert das öffentliche Interesse an der Gemse und der Gemsjägerei weckten, nicht die Alpenbewohner. Der Gemsjäger war eine Schöpfung der Bildungselite aus dem Unterland und als solche eine Figur, die ganz bestimmte mentale Funktionen im Zusammenhang mit der Erschliessung der Hochalpen zu erfüllen hatte. Dazu seien im folgenden drei Überlegungen skizziert.

1. Es ist kürzlich von zwei Seiten auf die Verwandtschaft der Alpenbewohner mit der Figur des «edlen Wilden» hingewiesen worden, von der historischen Anthropologie und der Literaturwissenschaft.[18] Demnach lassen sich beide Konstruktionen unter mehreren Gesichtspunkten vergleichen. Beide [ 273 ]setzen den Naturzustand voraus; beide weisen eine durch keinerlei zivilisatorische Verdorbenheit bewahrte Bedürfnisstruktur auf; beide zeichnen sich durch gleiche charakterliche Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit und Stärke aus; schliesslich wurde die vor allem in polynesischen Gesellschaften beobachtete angebliche sexuelle Freiheit im Brauch des Kiltganges wiedergefunden.

Versucht man, den Gemsjäger in diesem Kontext zu situieren, so fallen zwei Dinge auf. Einmal lässt er sich mit einzelnen, hervorragenden Figuren fremder Völker vergleichen. In ihrer überwiegenden Mehrheit bleiben ebenso wie die Alpenbewohner auch die Vertreter fremder Völker namenlos. Allerdings werden in den Berichten der Reisenden und Forscher stets ein paar wenige Persönlichkeiten - Häuptlinge meistens oder Krieger - namentlich genannt, weil sie als typische Vertreter ihres Volkes angesehen werden. Auch die Gemsjäger sind typische Vertreter der alpinen Bevölkerung. Von keiner anderen Gruppe kennt man so viele Namen wie von ihnen. Seit Scheuchzer das Schicksal von Caspar Störi erzählt hatte, wurden immer wieder namentlich bekannte Gemsjäger beschrieben, sei’s wegen der schier unvorstellbaren Zahl von Gemsen, die sie geschossen hatten, sei’s wegen eines Unfalls oder Gefahren, die sie nur dank der ihnen eigenen Zähigkeit, Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit überlebt hatten,[19] sei’s schliesslich wegen einer mutigen Tat. So barg etwa der Gemsjäger Hunger aus Thusis unter Lebensgefahr einen Sack mit Geldstücken, der einem Kaufmann in der Via Mala in den reissenden Fluss gefallen war, und rettete so dessen Existenz: «Nicht Eigennutz hatte ihn zu diesem Unternehmen bewogen, sondern Mitleiden, Ehrgeiz und Patriotismus.»[20] Gemsjäger sind beispielhafte Figuren, an ihnen lassen sich die immer wieder hervorgestrichenen und bewunderten Eigenschaften der Alpenbevölkerung am besten demonstrieren: Mut, Stärke, natürliche Bedürfnisse, sowie jene unbedingte Autonomie, welche die Grundlage der vielgerühmten, ursprünglichen Freiheit alpiner Gesellschaften ist.

Anderseits aber verkörpert der Gemsjäger auch die prekären Seiten des Naturzustandes, auf die von den Kritikern dieses Konzepts immer wieder hingewiesen wurde. Anders als die Sennen und Hirten bewegt er sich ungeschützt in einer klimatisch feindlichen Umgebung. In seiner Armut ist er der nackten Notwendigkeit ausgeliefert und dadurch gezwungen, sein Leben ständig aufs Spiel zu setzen: Gemsjäger fallen immer wieder in Gletscherspalten; sie sterben nicht zu Hause im Bett, sondern stürzen mit 30 oder 40 Jah[ 274 ]ren zu Tode,[21] und bisweilen müssen sie ihr Leben buchstäblich mit dem eigenen Blut retten - all dies macht deutlich, dass ihre Existenz eben nicht von Freiheit, sondern von Zwängen bestimmt ist, von denen sich zu emanzipieren zu den zentralen Anliegen aufgeklärten Denkens gehörte.

2. Die von Schiller im «Wilhelm Teil» unterstellte Einheit des Alpenraums war nicht einfach gegeben, sie musste allererst hergestellt werden, und dies war ein komplexes Unterfangen. Das hat sich bei Gruners Text gezeigt, und noch Anfang der 80er Jahre erzählt Karl Viktor von Bonstetten in seinen Hirtenlandbriefen eine Geschichte, deren Pointe gerade auf der Abgeschlossenheit der Hochalpen beruht. Ein Knabe läuft seinen Eltern davon, weil er nicht mehr Vieh hüten, sondern Gemsen jagen will. Bald verirrt er sich in «Eisthälern und Schneegründen» und glaubt sein Leben verloren. Da kommt der Geist des Berges und sagt zu ihm, «die Gemse, die du jagest, sind meine Heerde, was verfolgest du sie?» Gleichwohl zeigt er dem Knaben den Heimweg. Fortan weiss dieser, wohin er gehört und hütet das Vieh.[22]

In der Gemsjägerliteratur wird die Frage oft gestellt, aber nie beantwortet, weshalb jemand sein Leben lang im Hochgebirge herumklettert, was ihm doch nur Gefahren, Entbehrungen und kaum das tägliche Brot einträgt. Einzig Horace Benedict de Saussure versucht darauf eine Antwort zu finden: «Diese Gefahren selbst aber, diese Abwechslung von Hoffnung und Furcht, die beständige Bewegung, welche alle diese Veränderungen in der Seele unterhalten, diese sind es, welche den Jäger eben so reitzen, wie sie den Spieler, den Kriegsmann, den Schiffer, und selbst in gewissen Absichten den Naturforscher der Alpen beleben, dessen Unternehmungen und Reisen viele Ähnlichkeit mit denen der Gemsjäger haben.»[23]

Dieser Vergleich von Alpenforscher und Gemsjäger begegnet einem verschiedentlich im 18. Jahrhundert.[24] Der Gemsjäger bewegte sich seit jeher dort, wohin der Forscher im 18. Jahrhundert gerade erst aufbrach. Er war Vorbote; mit seiner Hilfe öffnete sich die Bildungselite mental ihr bislang verschlossene Räume.

3. Indem er ihre Zugänglichkeit demonstrierte, entzauberte der Gemsjäger zwar die Region des Hochgebirges, dennoch blieb sie geheimnisvoll. Der Gemsjäger hat Anteil an den Mythen, die eine traditionelle Volkskultur mit bestimmten Figuren, darunter auch dem Jäger, verbindet. Unmerklich verschwimmen gerade bei dieser Gestalt die Grenzen zwischen Sage und Wis[ 275 ]senschaft. Was Naturforscher von Gemsjägern als verbürgt erzählen, findet sich häufig auch im tradierten Sagenfundus. So klingt etwa in der oft kolportierten Geschichte, wonach ein Jäger mit einer Kugel drei Gemsen auf einmal geschossen habe,[25] das Freischützmotiv an. Der Freischütz hat mit dem Teufel einen Pakt, wonach er in einem gewissen Zeitraum immer eine oder mehrere Kugeln zur Verfügung hat, die unfehlbar treffen. Diesen Pakt bezahlt er schliesslich mit dem Tod. Auch der gewaltsame Tod vieler Gemsjäger wird in Sagen häufig mit Teufelspakten erklärt. Ihre Tollkühnheit und ihr Jagdfieber, die auch die Alpenforscher immer wieder hervorstreichen, verführt sie in zahlreichen Sagen dazu, Warnungen der Berggeister, endlich vom blutigen Geschäft abzulassen, zu missachten, was sie ebenfalls mit Tod oder Verstümmelung bezahlen. Auch wenn die Aufklärer solchen Aberglauben verspotten, zeigen sie sich gerade von jenen Charakterzügen und Eigenschaften fasziniert, die dem Gemsjäger in den Sagen immer wieder zum Verhängnis werden. Saussure beobachtet folgendes an ihnen: «Die wenigen unter den Jägern, die bey dieser Lebensart alt werden, tragen die Züge davon auf ihren Gesichtern eingegraben: ein wildes Aussehen, etwas Trotziges und Grausames zeichnet sie, auch wenn sie schon nicht ihre gewöhnliche Kleidung tragen, mitten unter einer Menge von ändern aus. Daher kömmt es auch allem Anschein nach, dass sie von einigen abergläubischen Bauern für Hexenmeister gehalten werden, die in diesen wilden Wüsteneyen mit dem Teufel Umgang pflegen, der sie denn endlich, ihrer müde, in die Abgründe hinabstürze.»[26]

Die Figur des Gemsjägers verhilft nicht nur dazu, Räume zu erschliessen und sie mit ändern zu verbinden, sie kodiert diese Räume neu. Als Projektionsfigur für überkommene, aus der Tradition der Volkskultur stammende Ängste, bietet sich der Gemsjäger geradezu idealtypisch an, auch die ganz anders geartete Furcht, wie die neue Bildungselite sie vor der noch unbekannten und daher unheimlichen Zone der Hochalpen empfindet, auf sich zu nehmen.

Johann Jakob Scheuchzer hatte den Gemsjäger zu Beginn des Jahrhunderts mit jener Vielschichtigkeit und Elastizität ausgestattet, die diese Figur geeignet erschienen liessen - eher jedenfalls als den Wildheuer und den Strahler -, daran bestimmte Fragen im Zusammenhang mit dem Hochgebirge, aber auch moralische Probleme durchzuspielen, die sich in dieser Phase des wissenschaftlichen und gesellschaftlichen Umbruchs stellten. Nachdem er [ 276 ]diese Aufgabe erfüllt hatte, verschwand der Gemsjäger aus den Texten der Naturforscher.


Anmerkungen

1 Vgl. Friedrich Schiller, Wilhelm Teil, I. Akt 1. Szene.

2 Vgl. Gottlieb Sigmund Grüner, Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens, II. Theil, London 1778, S. 273-275.

3 Grüner, S. 269.

4 Anton Friedrich Büsching, Neue Erdbeschreibung, Vierter Theil, 2. Aufl., Hamburg 1760, erwähnt die Gemsen nur im Zusammenhang mit der Schilderung der Alpenfauna; Johann Conrad Fäsi, Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenossenschaft, 4, Theile, Zürich 1766-1768, fasst in der Einleitung (Bd. I.S. 34-37) die seit Scheuchzer geläufigen Fakten über Gemse und Gemsjagd zusammen und geht im Zusammenhang mit einzelnen Gebieten der Schweiz, v. a. Glarus (Bd. II, S. 401-402) und Graubünden (Bd. IV, S. 51), auf spezifische Aspekte wie Jagdbann und Ausrottung der Alpentiere ein; Gabriel Walser, Schweitzer-Geographie. Samt den Merkwürdigkeiten in den Alpen und hohen Bergen. Zürich 1770, S. 92-93 beschränkt sich darauf, Scheuchzer abzuschreiben; Gerhard Philipp Heinrich Norrman, Geographisch-Statistische Darstellung des Schweizerlandes. 4 Bde., Hamburg 1795-1798, erwähnt die Gemsen fast nur im Zusammenhang mit der Schilderung der Gebirgsfauna, bei der Beschreibung Graubündens merkt er zur Gemsjägerei an: «Die Gemsen vermindern sich in Bündten sehr, weil ihnen von einheimischen, und noch mehr von Tyroler Jägern so häufig nachgestellt wird, daher auch der Gewinn an Häuten und die Ausfuhr derselben jetzt nicht beträchtlich ist» (Bd. III, S. 2398-2399). Dem entspricht folgende Bemerkung Fäsis in bezug auf Bern: «Indess kann man die Vortheile dieser Jagd und das dadurch gewonnene Produkt nicht hoch anrechnen» (Bd. I, S. 356). Der deutsche Reisende Adolf Traugott von Gersdorf, Bemerkungen auf einer Reise durch die Schweiz im Jahre 1786. schreibt, im Berner Oberland dürften Gemsen nur geschossen werden, wenn ein Burger der Stadt mit von der Partie sei. Einzelnen Teilen der Schweiz gewidmete Bücher bestätigen diesen Befund, für Graubünden etwa bereits Nicolin Sererhard, Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden, hg. v. Oskar Vasella,2. Aufl., Chur 1994, S. 100-102, der sich darauf beschränkt, ein paar Jägergeschichten zum besten zu geben. «Der neue Sammler» erwähnt in seinen Beschreibungen von Landesteilen das Vorkommen von Gemsen und gibt als einzige Schrift Auskunft über die Zahl der Gemsjäger (Schanfigg: 7-9, Rheinwald: 6), auch über den Ertrag, den eine geschossene Gemse bringt, doch wird der Gemsjagd auch hier keine wichtige ökonomische Bedeutung zugeschrieben, vgl. Der neue Sammler I 1805, S. 472-473; IV 1808, S. 63; V 1809, S. 120.

5 Johann Jakob Scheuchzer, Seltsamer Naturgeschichten Des Schweizer-Lands Wöchentliche Erzehlung (I-III), Zürich 1705-1707.

6 Adam Lebwald, Damographia Oder Gemsen-Beschreibung / In zwey Theil abgetheilet: Der Erste handlet Von dem Edlen Gemsen / der Andere Von der Cr afft / und Tugent-vollen Gemsen-Kugel. Saltzburg o. J. [nach 1693]. Mit der Bemerkung, er habe «dise Zeilen [...] in Mitten dess Winter-Monats 1693» geschrieben, gibt Lebwald einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Entstehung des Buches, vgl. S. 4.

7 Vgl. Lebwald, S. 29.

8 Scheuchzer, «Von denen Gemsballen»,in: Naturgeschichten 1,1705, S. 165-168, hier S. 166.

9 Vgl. Lebwald, S. 41. [ 277 ]10 Vgl. Lebwald, S. 46.

11 Dabei war er vor Irrtümern nicht gefeit. So übernahm er etwa die Behauptung Conrad Gessners, Gemsen leckten Sand; vgl. Conrad Gessner, Thierbuch, Zürych 1563, S. 63b; Scheuchzer, «Von denen Gembs-leckinen / oder Sulzen»,in: Naturgeschichten 1,1705, S. 39-40. Das Lecken dient der Salzaufnahme.

12 Vgl. Scheuchzer, «Von der Gems-Jagd», in: Naturgeschichten I, 1705, S. 41-44.

13 Vgl. Scheuchzer, «Berg-Jägerische Geschieht», in: Naturgeschichten III, 1707, S. 32-34.

14 Heinrich Pfendler, Gründliche Beschreibung der hohen Bergen /sambt deren sich darauff befindender Fruchtbarkeit / wilden Thieren / deren Natur / und anderen Wunder-dingen / Des Lobl. Orts und Lands Glarus. [...], Glarus 1670, S. 25.

15 Vgl. Pfendler, S. 27-34.

16 Heinrich Ludwig Lehmann, Die Republik Graubünden historisch - geographisch - statistisch dargestellt. Zweyter Theil, Brandenburg 1799, S. 169-170.

17 Johann Rudolf Steinmüller, «Über die Gemsenjagd in der Schweiz», in: Johann Rudolf Steinmüller, Ulysses von Salis-Marschlins (Hg.). Alpina II, 1807, S. 130-166; Johann Jakob Römer, Heinrich Rodolphe Schinz, Naturgeschichte der in der Schweiz einheimischen Säugethiere. Ein Handbuch für Kenner und Liebhaber. Zürich 1809, S. 309-342.

18 Vgl. etwa das bekannte Lied «Der Gemsjäger», das Gottlieb Jakob Kuhn 1805 geschrieben hat; 1802 bereits war Ulysses von Salis, «Fragment einer Geschichte», in: Bildergallerie der Heimweh-Kranken. Ein Lesebuch für Leidende. 3. Bd., Zürich 1802, S. 146-210 aus dem Nachlass veröffentlicht worden; Geschichten und Gedichte über die Gemsjägerei finden sich auch in den Jahrgängen 1824,1827,1829 und 1831 des von Kuhn mit herausgegebenen Jahrbuches «Alpenrosen», u. a. das Gedicht «Die Gemsjäger. Begebenheit aus dem wirklichen Leben» von Johann Jakob Reithard, dem die Geschichte der zwei Glarner Emanuel Walcher und Rudolf Blesi zugrunde liegt, vgl. Alpenrosen. Ein Schweizer-Taschenbuch auf das Jahr 1831. Aarau 1831, S. 407-414.

19 François Walter, «Dall’antropologia alla topographia, dalla pittura alla cartographia. Osservazioni sulle referenze identitarie alla fine del XVIII secolo», in: Quaderni storici 90, 1995, S. 697-728; Albert M. Debrunner, Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildszeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996, S. 4-20.

20. So soll David Zwicki bis zu seinem Absturz am Wiggis im 57. Lebensjahr 1300 Gemsen geschossen haben, Thomas Hefti, der mit 36 Jahren in eine Gletscherspalte fiel, 300 und Johannes Heitz - berühmt wegen des Gemäldes in der Serie schweizerischer Trachtenbilder des Luzerner Malers Joseph Reinhardt - 1200 (vgl. Steinmüller, S. 157, 163). Sie alle überragte Gian Marchett Colani, der es auf 2700 geschossene Gemsen gebracht haben soll (Werner E. Aeberhardt, Der rätische Jägerfürst Gian Marchet Colani. der «König der Bernina». Hünibach 1972, S. 12). Was die berühmten Glarner Gemsjäger wie Zwicki, Heitz oder Blumer angeht, so fällt auf, dass sich ausser in den Genealogiebüchern keine offiziellen Aufzeichnungen über sie finden; vgl. Landesarchiv des Kantons Glarus GE 6, Nr. 24 (Heitz), GE 5, Nr. 36 (Blumer); freundliche Mitteilung von Dr. Hans Laupper. Gemsjäger, die wie Caspar Störi fürchterliche Unfälle überlebten, sind etwa Peter Mooraus Gadmen im Berner Oberland, der neun Stunden in einer Felsspalte ausharrte. Ein Jäger aus Grindelwald fiel durch einen Gletscher bis auf den Grund und kroch den Schmelzwasserbächen entlang unter dem Gletscher hervor (vgl. Steinmüller, S. 164-165). Christian Huber aus Guttannen hatte 1729 nach der Rettung ein Bekehrungserlebnis und beschäftigte fortan die gnädigen Herren von Bern als renitenter Pietist und Parteigänger von Samuel König. Es konnte auch geschehen, dass der Jäger statt Gemsen gefährlichen Tieren begegnete wie Peter Danz aus Zuoz, der von einem Bären angefallen und von ihm verwundet wurde (vgl. Lehmann, 2. Theil, S. 176; vgl. auch die Erzählung von Ulysses von Salis, Anm. 18) oder Joseph Schorer aus Amden, der an einer Felswand von einem Geier angegriffen wurde (vgl. Johann Gottfried Ebel, Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen. 3. Aufl., Zürich 1810, Bd. IV, S. 468-469). [ 278 ]21 Vgl. Lehmann, 1. Theil, S. 431-432.

22 Die berühmten Glarner Gemsjäger verunglückten - mit Ausnahme von David Zwicki - alle im Alter von 30-40 Jahren; vgl. auch Ulysses von Salis, «Beyträge zur Naturgeschichte der Gemsen in Bündten und Veltlin», in: Albrecht Höpfner (Hg.), Magazin für die Naturkunde Helvetiens II, Zürich 1788, S. 111-132: «Man kann vor gewiss annehmen, dass die wenigsten Gemsenjäger eines natürlichen Todes sterben, oder doch mit ganzen Gliedern aus der Welt gehen. Früh oder spät ist ihr Antheil, ein meistens schrecklicher Tod, oder eine grausame Verstümmlung ihres Körpers.» (S. 125)

23 Karl Viktor von Bonstetten, Briefe über ein schweizerisches Hirtenland, Basel 1782, S. 116.

24 Horace Bénédict de Saussure, Reisen durch die Alpen, 4 Theile, Leipzig 1781-1788,3. Theil, S. 174.

25 So wurde der Luzerner Franz Ludwig Pfyffer von Wyer von den Reisenden, die ihn besuchten, um sein in ganz Europa berühmtes «Relief der Urschweiz» zu besichtigen, häufig mit einem Gemsjäger verglichen, weil er sich wochenlang im Hochgebirge aufhielt, um Vermessungen vorzunehmen.

26 Vgl. Sererhard, S. 101-102; ähnlich Steinmüller, S. 136,141,157.

27 Saussure, S. 173-174.

  1. 1 Vgl. Friedrich Schiller, Wilhelm Teil, I. Akt 1. Szene. 4 Anton Friedrich Büsching, Neue Erdbeschreibung, Vierter Theil, 2. Aufl., Hamburg 1760, erwähnt die Gemsen nur im Zusammenhang mit der Schilderung der Alpenfauna; Johann Conrad Fäsi, Staats- und Erdbeschreibung der ganzen Helvetischen Eidgenossenschaft, 4, Theile, Zürich 1766-1768, fasst in der Einleitung (Bd. I.S. 34-37) die seit Scheuchzer geläufigen Fakten über Gemse und Gemsjagd zusammen und geht im Zusammenhang mit einzelnen Gebieten der Schweiz, v. a. Glarus (Bd. II, S. 401-402) und Graubünden (Bd. IV, S. 51), auf spezifische Aspekte wie Jagdbann und Ausrottung der Alpentiere ein; Gabriel Walser, Schweitzer-Geographie. Samt den Merkwürdigkeiten in den Alpen und hohen Bergen. Zürich 1770, S. 92-93 beschränkt sich darauf, Scheuchzer abzuschreiben; Gerhard Philipp Heinrich Norrman, Geographisch-Statistische Darstellung des Schweizerlandes. 4 Bde., Hamburg 1795-1798, erwähnt die Gemsen fast nur im Zusammenhang mit der Schilderung der Gebirgsfauna, bei der Beschreibung Graubündens merkt er zur Gemsjägerei an: «Die Gemsen vermindern sich in Bündten sehr, weil ihnen von einheimischen, und noch mehr von Tyroler Jägern so häufig nachgestellt wird, daher auch der Gewinn an Häuten und die Ausfuhr derselben jetzt nicht beträchtlich ist» (Bd. III, S. 2398-2399). Dem entspricht folgende Bemerkung Fäsis in bezug auf Bern: «Indess kann man die Vortheile dieser Jagd und das dadurch gewonnene Produkt nicht hoch anrechnen» (Bd. I, S. 356). Der deutsche Reisende Adolf Traugott von Gersdorf, Bemerkungen auf einer Reise durch die Schweiz im Jahre 1786. schreibt, im Berner Oberland dürften Gemsen nur geschossen werden, wenn ein Burger der Stadt mit von der Partie sei. Einzelnen Teilen der Schweiz gewidmete Bücher bestätigen diesen Befund, für Graubünden etwa bereits Nicolin Sererhard, Einfalte Delineation aller Gemeinden gemeiner dreyen Bünden, hg. v. Oskar Vasella,2. Aufl., Chur 1994, S. 100-102, der sich darauf beschränkt, ein paar Jägergeschichten zum besten zu geben. «Der neue Sammler» erwähnt in seinen Beschreibungen von Landesteilen das Vorkommen von Gemsen und gibt als einzige Schrift Auskunft über die Zahl der Gemsjäger (Schanfigg: 7-9, Rheinwald: 6), auch über den Ertrag, den eine geschossene Gemse bringt, doch wird der Gemsjagd auch hier keine wichtige ökonomische Bedeutung zugeschrieben, vgl. Der neue Sammler I 1805, S. 472-473; IV 1808, S. 63; V 1809, S. 120.
  2. 2 Vgl. Gottlieb Sigmund Grüner, Reisen durch die merkwürdigsten Gegenden Helvetiens, II. Theil, London 1778, S. 273-275.
  3. 3 Grüner, S. 269.
  4. 5 Johann Jakob Scheuchzer, Seltsamer Naturgeschichten Des Schweizer-Lands Wöchentliche Erzehlung (I-III), Zürich 1705-1707.
  5. 6 Adam Lebwald, Damographia Oder Gemsen-Beschreibung / In zwey Theil abgetheilet: Der Erste handlet Von dem Edlen Gemsen / der Andere Von der Cr afft / und Tugent-vollen Gemsen-Kugel. Saltzburg o. J. [nach 1693]. Mit der Bemerkung, er habe «dise Zeilen [...] in Mitten dess Winter-Monats 1693» geschrieben, gibt Lebwald einen Hinweis auf den Zeitpunkt der Entstehung des Buches, vgl. S. 4.
  6. 7 Vgl. Lebwald, S. 29.
  7. 8 Scheuchzer, «Von denen Gemsballen»,in: Naturgeschichten 1,1705, S. 165-168, hier S. 166.
  8. 9 Vgl. Lebwald, S. 41.
  9. 10 Vgl. Lebwald, S. 46.
  10. 11 Dabei war er vor Irrtümern nicht gefeit. So übernahm er etwa die Behauptung Conrad Gessners, Gemsen leckten Sand; vgl. Conrad Gessner, Thierbuch, Zürych 1563, S. 63b; Scheuchzer, «Von denen Gembs-leckinen / oder Sulzen»,in: Naturgeschichten 1,1705, S. 39-40. Das Lecken dient der Salzaufnahme.
  11. 12 Vgl. Scheuchzer, «Von der Gems-Jagd», in: Naturgeschichten I, 1705, S. 41-44.
  12. 13 Vgl. Scheuchzer, «Berg-Jägerische Geschieht», in: Naturgeschichten III, 1707, S. 32-34.
  13. 14 Heinrich Pfendler, Gründliche Beschreibung der hohen Bergen /sambt deren sich darauff befindender Fruchtbarkeit / wilden Thieren / deren Natur / und anderen Wunder-dingen / Des Lobl. Orts und Lands Glarus. [...], Glarus 1670, S. 25.
  14. 15 Vgl. Pfendler, S. 27-34.
  15. 16 Heinrich Ludwig Lehmann, Die Republik Graubünden historisch - geographisch - statistisch dargestellt. Zweyter Theil, Brandenburg 1799, S. 169-170.
  16. 17 Johann Rudolf Steinmüller, «Über die Gemsenjagd in der Schweiz», in: Johann Rudolf Steinmüller, Ulysses von Salis-Marschlins (Hg.). Alpina II, 1807, S. 130-166; Johann Jakob Römer, Heinrich Rodolphe Schinz, Naturgeschichte der in der Schweiz einheimischen Säugethiere. Ein Handbuch für Kenner und Liebhaber. Zürich 1809, S. 309-342.
  17. 18 Vgl. etwa das bekannte Lied «Der Gemsjäger», das Gottlieb Jakob Kuhn 1805 geschrieben hat; 1802 bereits war Ulysses von Salis, «Fragment einer Geschichte», in: Bildergallerie der Heimweh-Kranken. Ein Lesebuch für Leidende. 3. Bd., Zürich 1802, S. 146-210 aus dem Nachlass veröffentlicht worden; Geschichten und Gedichte über die Gemsjägerei finden sich auch in den Jahrgängen 1824,1827,1829 und 1831 des von Kuhn mit herausgegebenen Jahrbuches «Alpenrosen», u. a. das Gedicht «Die Gemsjäger. Begebenheit aus dem wirklichen Leben» von Johann Jakob Reithard, dem die Geschichte der zwei Glarner Emanuel Walcher und Rudolf Blesi zugrunde liegt, vgl. Alpenrosen. Ein Schweizer-Taschenbuch auf das Jahr 1831. Aarau 1831, S. 407-414.
  18. 19 François Walter, «Dall’antropologia alla topographia, dalla pittura alla cartographia. Osservazioni sulle referenze identitarie alla fine del XVIII secolo», in: Quaderni storici 90, 1995, S. 697-728; Albert M. Debrunner, Das güldene schwäbische Alter. Johann Jakob Bodmer und das Mittelalter als Vorbildszeit im 18. Jahrhundert. Würzburg 1996, S. 4-20. 20. So soll David Zwicki bis zu seinem Absturz am Wiggis im 57. Lebensjahr 1300 Gemsen geschossen haben, Thomas Hefti, der mit 36 Jahren in eine Gletscherspalte fiel, 300 und Johannes Heitz - berühmt wegen des Gemäldes in der Serie schweizerischer Trachtenbilder des Luzerner Malers Joseph Reinhardt - 1200 (vgl. Steinmüller, S. 157, 163). Sie alle überragte Gian Marchett Colani, der es auf 2700 geschossene Gemsen gebracht haben soll (Werner E. Aeberhardt, Der rätische Jägerfürst Gian Marchet Colani. der «König der Bernina». Hünibach 1972, S. 12). Was die berühmten Glarner Gemsjäger wie Zwicki, Heitz oder Blumer angeht, so fällt auf, dass sich ausser in den Genealogiebüchern keine offiziellen Aufzeichnungen über sie finden; vgl. Landesarchiv des Kantons Glarus GE 6, Nr. 24 (Heitz), GE 5, Nr. 36 (Blumer); freundliche Mitteilung von Dr. Hans Laupper. Gemsjäger, die wie Caspar Störi fürchterliche Unfälle überlebten, sind etwa Peter Mooraus Gadmen im Berner Oberland, der neun Stunden in einer Felsspalte ausharrte. Ein Jäger aus Grindelwald fiel durch einen Gletscher bis auf den Grund und kroch den Schmelzwasserbächen entlang unter dem Gletscher hervor (vgl. Steinmüller, S. 164-165). Christian Huber aus Guttannen hatte 1729 nach der Rettung ein Bekehrungserlebnis und beschäftigte fortan die gnädigen Herren von Bern als renitenter Pietist und Parteigänger von Samuel König. Es konnte auch geschehen, dass der Jäger statt Gemsen gefährlichen Tieren begegnete wie Peter Danz aus Zuoz, der von einem Bären angefallen und von ihm verwundet wurde (vgl. Lehmann, 2. Theil, S. 176; vgl. auch die Erzählung von Ulysses von Salis, Anm. 18) oder Joseph Schorer aus Amden, der an einer Felswand von einem Geier angegriffen wurde (vgl. Johann Gottfried Ebel, Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen. 3. Aufl., Zürich 1810, Bd. IV, S. 468-469).
  19. 20. So soll David Zwicki bis zu seinem Absturz am Wiggis im 57. Lebensjahr 1300 Gemsen geschossen haben, Thomas Hefti, der mit 36 Jahren in eine Gletscherspalte fiel, 300 und Johannes Heitz - berühmt wegen des Gemäldes in der Serie schweizerischer Trachtenbilder des Luzerner Malers Joseph Reinhardt - 1200 (vgl. Steinmüller, S. 157, 163). Sie alle überragte Gian Marchett Colani, der es auf 2700 geschossene Gemsen gebracht haben soll (Werner E. Aeberhardt, Der rätische Jägerfürst Gian Marchet Colani. der «König der Bernina». Hünibach 1972, S. 12). Was die berühmten Glarner Gemsjäger wie Zwicki, Heitz oder Blumer angeht, so fällt auf, dass sich ausser in den Genealogiebüchern keine offiziellen Aufzeichnungen über sie finden; vgl. Landesarchiv des Kantons Glarus GE 6, Nr. 24 (Heitz), GE 5, Nr. 36 (Blumer); freundliche Mitteilung von Dr. Hans Laupper. Gemsjäger, die wie Caspar Störi fürchterliche Unfälle überlebten, sind etwa Peter Mooraus Gadmen im Berner Oberland, der neun Stunden in einer Felsspalte ausharrte. Ein Jäger aus Grindelwald fiel durch einen Gletscher bis auf den Grund und kroch den Schmelzwasserbächen entlang unter dem Gletscher hervor (vgl. Steinmüller, S. 164-165). Christian Huber aus Guttannen hatte 1729 nach der Rettung ein Bekehrungserlebnis und beschäftigte fortan die gnädigen Herren von Bern als renitenter Pietist und Parteigänger von Samuel König. Es konnte auch geschehen, dass der Jäger statt Gemsen gefährlichen Tieren begegnete wie Peter Danz aus Zuoz, der von einem Bären angefallen und von ihm verwundet wurde (vgl. Lehmann, 2. Theil, S. 176; vgl. auch die Erzählung von Ulysses von Salis, Anm. 18) oder Joseph Schorer aus Amden, der an einer Felswand von einem Geier angegriffen wurde (vgl. Johann Gottfried Ebel, Anleitung auf die nützlichste und genussvollste Art die Schweitz zu bereisen. 3. Aufl., Zürich 1810, Bd. IV, S. 468-469).
  20. 21 Vgl. Lehmann, 1. Theil, S. 431-432.
  21. 22 Die berühmten Glarner Gemsjäger verunglückten - mit Ausnahme von David Zwicki - alle im Alter von 30-40 Jahren; vgl. auch Ulysses von Salis, «Beyträge zur Naturgeschichte der Gemsen in Bündten und Veltlin», in: Albrecht Höpfner (Hg.), Magazin für die Naturkunde Helvetiens II, Zürich 1788, S. 111-132: «Man kann vor gewiss annehmen, dass die wenigsten Gemsenjäger eines natürlichen Todes sterben, oder doch mit ganzen Gliedern aus der Welt gehen. Früh oder spät ist ihr Antheil, ein meistens schrecklicher Tod, oder eine grausame Verstümmlung ihres Körpers.» (S. 125)
  22. 23 Karl Viktor von Bonstetten, Briefe über ein schweizerisches Hirtenland, Basel 1782, S. 116.
  23. 24 Horace Bénédict de Saussure, Reisen durch die Alpen, 4 Theile, Leipzig 1781-1788,3. Theil, S. 174.
  24. 25 So wurde der Luzerner Franz Ludwig Pfyffer von Wyer von den Reisenden, die ihn besuchten, um sein in ganz Europa berühmtes «Relief der Urschweiz» zu besichtigen, häufig mit einem Gemsjäger verglichen, weil er sich wochenlang im Hochgebirge aufhielt, um Vermessungen vorzunehmen.
  25. 26 Vgl. Sererhard, S. 101-102; ähnlich Steinmüller, S. 136,141,157.
  26. 27 Saussure, S. 173-174.