Page:Labi 1998.djvu/246

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Bibel, etwa in den Psalmen Davids, erwähnt werde, weil sie wild und nicht zähmbar sei, weil sie stark und listig sei, weil ihr Fleisch gut schmecke und weil sie schliesslich in grösser Zahl vorkomme.[15]

Das hier noch sehr vage formulierte ästhetische Urteil - 100 Jahre später würde man es sich entschieden verbitten, in Fragen des ästhetischen Geschmacks auch den Gaumen und die Bibel entscheiden zu lassen - über die Gemse und die Alpenfauna überhaupt vermischte sich in der Folgezeit mit den naturgeschichtlichen Beschreibungen, wie sie nach Scheuchzers Artikeln immer häufiger erschienen. Beide waren Voraussetzungen für die breite Aufmerksamkeit, die der Gemse und dem Gemsjäger in der Schriftstellerei des 18. Jahrhunderts zuteil wurden. Dieses Interesse dauerte bis ziemlich genau um 1800, als Heinrich Ludwig Lehmann in seiner Beschreibung von Graubünden mit unverkennbaren Anzeichen des Überdrusses festhielt: «Von der Gemse haben schon so viele geschrieben und haben fast alle Reisende, welche von der Schweitz schreiben, ein so langes und breites geschwatzt, dass ich die Geduld meiner Leser zu ermüden besorgen müsste, wenn auch ich hier meine Erfahrungen wiederkäuen, meine kleine Belesenheit auftischen wollte.»[16]

Lehmanns Bemerkung zeigt, dass Ende des Jahrhunderts das Interesse an Gemse und Gemsjägerei am Abflauen war, und dies bestätigen auch zwei Texte, die das Thema, wie es die Autoren im 18. Jahrhundert beschäftigt hatte, abschliessend darstellten.[17] Kurz nach der Jahrhundertwende lassen Schriftsteller wie der Volkslieddichter Gottlieb Jakob Kuhn oder Johann Jakob Reithard mit ihren sentimentalen Gedichten und Liedern bereits die biedermeierliche Sicht auf die Hochgebirgsjagd erkennen.[18]

Es waren - soviel lässt sich festhalten - die Naturforscher, die Reisenden und Literaten, die im 18. Jahrhundert das öffentliche Interesse an der Gemse und der Gemsjägerei weckten, nicht die Alpenbewohner. Der Gemsjäger war eine Schöpfung der Bildungselite aus dem Unterland und als solche eine Figur, die ganz bestimmte mentale Funktionen im Zusammenhang mit der Erschliessung der Hochalpen zu erfüllen hatte. Dazu seien im folgenden drei Überlegungen skizziert.

1. Es ist kürzlich von zwei Seiten auf die Verwandtschaft der Alpenbewohner mit der Figur des «edlen Wilden» hingewiesen worden, von der historischen Anthropologie und der Literaturwissenschaft.[19] Demnach lassen sich beide Konstruktionen unter mehreren Gesichtspunkten vergleichen. Beide

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3