Page:Labi 1998.djvu/247

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setzen den Naturzustand voraus; beide weisen eine durch keinerlei zivilisatorische Verdorbenheit bewahrte Bedürfnisstruktur auf; beide zeichnen sich durch gleiche charakterliche Eigenschaften wie Mut, Tapferkeit und Stärke aus; schliesslich wurde die vor allem in polynesischen Gesellschaften beobachtete angebliche sexuelle Freiheit im Brauch des Kiltganges wiedergefunden.

Versucht man, den Gemsjäger in diesem Kontext zu situieren, so fallen zwei Dinge auf. Einmal lässt er sich mit einzelnen, hervorragenden Figuren fremder Völker vergleichen. In ihrer überwiegenden Mehrheit bleiben ebenso wie die Alpenbewohner auch die Vertreter fremder Völker namenlos. Allerdings werden in den Berichten der Reisenden und Forscher stets ein paar wenige Persönlichkeiten - Häuptlinge meistens oder Krieger - namentlich genannt, weil sie als typische Vertreter ihres Volkes angesehen werden. Auch die Gemsjäger sind typische Vertreter der alpinen Bevölkerung. Von keiner anderen Gruppe kennt man so viele Namen wie von ihnen. Seit Scheuchzer das Schicksal von Caspar Störi erzählt hatte, wurden immer wieder namentlich bekannte Gemsjäger beschrieben, sei’s wegen der schier unvorstellbaren Zahl von Gemsen, die sie geschossen hatten, sei’s wegen eines Unfalls oder Gefahren, die sie nur dank der ihnen eigenen Zähigkeit, Kaltblütigkeit und Unerschrockenheit überlebt hatten,[20] sei’s schliesslich wegen einer mutigen Tat. So barg etwa der Gemsjäger Hunger aus Thusis unter Lebensgefahr einen Sack mit Geldstücken, der einem Kaufmann in der Via Mala in den reissenden Fluss gefallen war, und rettete so dessen Existenz: «Nicht Eigennutz hatte ihn zu diesem Unternehmen bewogen, sondern Mitleiden, Ehrgeiz und Patriotismus.»[21] Gemsjäger sind beispielhafte Figuren, an ihnen lassen sich die immer wieder hervorgestrichenen und bewunderten Eigenschaften der Alpenbevölkerung am besten demonstrieren: Mut, Stärke, natürliche Bedürfnisse, sowie jene unbedingte Autonomie, welche die Grundlage der vielgerühmten, ursprünglichen Freiheit alpiner Gesellschaften ist.

Anderseits aber verkörpert der Gemsjäger auch die prekären Seiten des Naturzustandes, auf die von den Kritikern dieses Konzepts immer wieder hingewiesen wurde. Anders als die Sennen und Hirten bewegt er sich ungeschützt in einer klimatisch feindlichen Umgebung. In seiner Armut ist er der nackten Notwendigkeit ausgeliefert und dadurch gezwungen, sein Leben ständig aufs Spiel zu setzen: Gemsjäger fallen immer wieder in Gletscherspalten; sie sterben nicht zu Hause im Bett, sondern stürzen mit 30 oder 40 Jah-

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BÜRGI: HÖHENANGST, HÖHENLUST