Page:Labi 1998.djvu/245

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gedrängt. Stärker als jedes andere ist dieses Leben beständig vom Tod über-schattet, dabei eine einzige Folge von Vergeblichkeit und Entbehrungen.[12]

Wie zur Krönung all dessen, was er über die Gemsjägerei schreibt, erzählt Scheuchzer in einer der letzten Nummern seiner Zeitschrift noch das Schicksal von Caspar Störi aus dem glarnerischen Schwanden. Dieser war auf der Gemsjagd in eine Gletscherspalte gefallen. Bis zum Bauch war er ins eiskalte Schmelzwasser getaucht, mit dem Rücken und seinen Armen stützte er sich an den Eiswänden der Spalte ab, um nicht vollends ins Wasser zu fallen und zu ertrinken. So musste er lange Zeit ausharren, bis seine Gefährten mit einem Seil kamen, das sie aus einer alten, in Streifen geschnittenen Decke zusammengeknüpft hatten. Damit zogen sie Störi hoch, bis kurz vor den Rand der Spalte. Dann riss das Seil, und zwar so, dass zusammen mit Störi der längere Teil in die Spalte zurückfiel. Dabei brach sich Störi den Arm und glaubte nun, es sei endgültig um ihn geschehen. Doch seine Gefährten gaben nicht auf. Sie schnitten aus dem Rest noch dünnere Streifen und verknüpften sie erneut, bis das Seil lang genug war, um Störi endlich aus seiner Lage zu befreien.[13]

Mit dieser Geschichte glückte Scheuchzer ein Wurf, der an Dramatik nicht mehr zu überbieten war und an dem sich künftig alle Berichte von Gemsjägerabenteuern zu messen hatten. Die Geschichte machte das ganze Jahr-hundert lang Furore und wurde in allen einschlägigen Schriften zitiert. Mit seinen Beiträgen in den «Naturgeschichten» hatte Scheuchzer nicht nur erzählerisch alle Elemente vereinigt, die diese Figur auch in der Folgezeit auszeichneten, er konnte darüber hinaus - weil er nicht als Erzähler, sondern als Naturforscher auftrat - für sich auch die Glaubwürdigkeit dessen beanspruchen, der von überprüfbaren Fakten handelt.

Neben einer neuen naturgeschichtlichen begann sich im letzten Drittel des 17. Jahrhunderts auch die ästhetische Betrachtungsweise des Hochgebirges herauszubilden. Auch sie stand im Zusammenhang mit dessen erst zaghaft einsetzender Neubewertung. Noch sehr deutlich ist in der 1670 erschienenen Beschreibung des Landes Glarus von Heinrich Pfändler die Abscheu und die Furcht vor den «grausamen Bergen» spürbar, doch fast trotzig he isst es auch: «Nun seyen diese hohe Berge diss Landes Glarus so rauh und wild sie wollen / so sind sie dannoch 1. Lieblich. 2. Nützlich.»[14] Und Pfändler hängt die Frage an: «Was ist nun aber Lieblichers / als anschawen die Gembsen / mit ihrem schnellen Lauff?» Lieblich sei die Gemse, weil sie schon in der

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BÜRGI: HÖHENANGST, HÖHENLUST