Page:Labi 1998.djvu/244

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caea».[10] Nur rund ein Jahrzehnt später ist mit Scheuchzers Artikel das Thema Gemskugeln wissenschaftlich erledigt. Zwar spukt es auch in den Texten der Folgezeit noch herum, fortan jedoch nur noch unter den Vorzeichen des Betrugs und des Aberglaubens.

Scheuchzer war aber nicht nur Naturforscher, er verfügte vor allem auch über beachtliche schriftstellerische Qualitäten. Was er an der Überlieferung als richtig erkannt hatte,[11] verwob er mit eigenen Beobachtungen und schuf so über einen Gegenstand eine neue Erzählung. Das zeigt sich gerade an der Figur des Gemsjägers, die ganz und gar seine Schöpfung ist. Texte und Motive aus dem 16. und 17. Jahrhundert verknüpfte er mit Erkenntnissen, die er auf seinen Bergreisen gewonnen hatte, und fügte so bislang vereinzelte Momente zu einer kohärenten Figur, deren Leben und Tätigkeit man sich folgendermassen vorzustellen hat: Der Gemsjäger ist mit einem rauhen Mantel, guten Schuhen, Steigeisen, einer Flinte und wenig Mundvorrat ausgerüstet, wenn er, bei jedem Wetter, ins Gebirge geht. Seine Tätigkeit ist höchst unsicher, denn die Gemse ist sehr scheu und bemerkt ihre Feinde sofort. Daher ist seine Mühe nur selten von Erfolg gekrönt; meist läuft er vergeblich durchs Gebirge, übernachtet bei Regen und Kälte in Höhlen und unter Felsvorsprüngen, wenn’s gut geht, kann er auf einer Alp bei einem Senn Unterkommen. Dabei ist gerade die Gemsjagd die gefährlichste Jagd überhaupt, führt sie doch in die höchsten Regionen der Gebirge, in Schneefelder und auf kaum begehbare Gletscher. Nur zu oft passiert es, dass der Jäger in eine Spalte stürzt, dass er sich im Eifer der Jagd in den unzugänglichsten Felsen versteigt und weder vorwärts noch zurück weiss. Da kann es dann geschehen - und diese Behauptung erregte in der Folge beim Publikum die allergrössten Angst- und Lustgefühle -, dass er sich nicht mehr anders zu helfen weiss, als sein Messer zu nehmen, Handflächen und Sohlen aufzuschneiden, um mit dem herausfliessenden Blut sich am Berg festzukleben. Gelingt es ihm dennoch, eine Gemse zu schiessen, kann es passieren, dass sie vor seinen Augen in einen unzugänglichen Abgrund stürzt und die ganze Mühsal wieder vergeblich war. Schliesslich kann auch die Gemse selber den Jäger in den Abgrund stürzen. Wird sie nämlich derart in die Enge getrieben, dass ihr kein anderer Ausweg bleibt als jener, den der Jäger besetzt hält, dann springt sie voller Verzweiflung auf den Jäger zu, und wenn dieser sich nicht nahe an den Fels drückt und sie vorbeilässt oder sich auf den Boden legt, damit sie über ihn hinwegsetzen kann, wird er von der fliehenden Gemse unfehlbar in den Abgrund

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3