Page:Labi 1998.djvu/243

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deutung zukam, und ebenso unbedeutend war die Zahl derer, die sich damit abgaben.[4] Warum also spielte der Gemsjäger im 18. Jahrhundert eine derart herausragende Rolle?

In der wissenschaftlichen Literatur des 18. Jahrhunderts tritt der Gemsjäger zuerst in Johann Jakob Scheuchzers «Seltsamer Naturgeschichten des Schweizer-Landes Wöchentliche Erzehlung» in Erscheinung, einem Periodikum, das der Zürcher Naturforscher zwischen 1705 und 1707 schrieb und herausgab und das einen Wendepunkt in der Betrachtung der alpinen Natur markiert.[5]

Das zeigt sich unter anderem auch in einem Artikel über die Gemskugeln, worin Scheuchzer mit althergebrachtem Aberglauben über alle möglichen Wunder- und Heilwirkungen dieser manchmal in Gemsmägen gefundenen Kugeln aufräumt.

Gut zehn Jahre vor Scheuchzers Artikel war mit Adam Lebwalds «Damographia» die bislang umfassendste Schrift über die Gemse erschienen; noch rund die Hälfte davon war «der Crafft / und Tugent-vollen Gemsen-Kugel» gewidmet.[6] Völlig konform mit der Tradition, versäumt Lebwald es nicht, zu Beginn seines Textes den antiken und neuzeitlichen Autoritäten - Plinius, Scaliger und Aldrovandus - seine Referenz zu erweisen. Unter den zeitgenössischen Werken rühmt er die 1668 erschienene «Dissertatio Medico-Philosophico de Aegagropilis» von Georg Hieronymus Welsch als Standardwerk.[7]

Gerade von diesem Buch hält Scheuchzer gar nichts. Welschs Aussagen über die Heilkraft der Gemskugeln «in denen Zuständen des Haubts / der Augen / der Lungen / des Herzens / des Magens / Leber / Nieren / Mutter / Nerven / und anderen Gliederen mehr» verhöhnt er mit den Worten: «Es lasset sich /sag ich / solches wol sagen / und schreiben / wie dann Velschius einen langen Rodel hat von gar vilen Zuständen des Menschlichen Leibs / in welchen die Gemskuglen dienlich seyn: Aber / wann man von dem Gebrauch selbs / oder der Practic / wil reden / so thun sich erst dann die schwerigkeiten hervor. In Discursen und Schriften lassen sich die schwersten Krankheiten / die fallende Sucht / allerhand andere Gichter / Wassersucht / Schlagfluss / rc. curieren / aber nicht allezeit in der That.»[8]

Vollends entrüstet zeigt sich Scheuchzer über die Behauptung, Gemskugeln schützten vor Verletzungen durch Gewehrschüsse, weshalb Gemskugeln insbesondere von Soldaten gesucht waren und ihnen für viel Geld verkauft wurden. Diese Eigenschaft lehnt zwar bereits Lebwald ab,[9] doch wie für die älteren Autoren ist auch für ihn die Gemskugel noch immer eine «Pana-

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BÜRGI: HÖHENANGST, HÖHENLUST