Page:Labi 1998.djvu/248

From Wikisource
Jump to navigation Jump to search
This page has not been proofread.

ren zu Tode,[22] und bisweilen müssen sie ihr Leben buchstäblich mit dem eigenen Blut retten - all dies macht deutlich, dass ihre Existenz eben nicht von Freiheit, sondern von Zwängen bestimmt ist, von denen sich zu emanzipieren zu den zentralen Anliegen aufgeklärten Denkens gehörte.

2. Die von Schiller im «Wilhelm Teil» unterstellte Einheit des Alpenraums war nicht einfach gegeben, sie musste allererst hergestellt werden, und dies war ein komplexes Unterfangen. Das hat sich bei Gruners Text gezeigt, und noch Anfang der 80er Jahre erzählt Karl Viktor von Bonstetten in seinen Hirtenlandbriefen eine Geschichte, deren Pointe gerade auf der Abgeschlossenheit der Hochalpen beruht. Ein Knabe läuft seinen Eltern davon, weil er nicht mehr Vieh hüten, sondern Gemsen jagen will. Bald verirrt er sich in «Eisthälern und Schneegründen» und glaubt sein Leben verloren. Da kommt der Geist des Berges und sagt zu ihm, «die Gemse, die du jagest, sind meine Heerde, was verfolgest du sie?» Gleichwohl zeigt er dem Knaben den Heimweg. Fortan weiss dieser, wohin er gehört und hütet das Vieh.[23]

In der Gemsjägerliteratur wird die Frage oft gestellt, aber nie beantwortet, weshalb jemand sein Leben lang im Hochgebirge herumklettert, was ihm doch nur Gefahren, Entbehrungen und kaum das tägliche Brot einträgt. Einzig Horace Benedict de Saussure versucht darauf eine Antwort zu finden: «Diese Gefahren selbst aber, diese Abwechslung von Hoffnung und Furcht, die beständige Bewegung, welche alle diese Veränderungen in der Seele unterhalten, diese sind es, welche den Jäger eben so reitzen, wie sie den Spieler, den Kriegsmann, den Schiffer, und selbst in gewissen Absichten den Naturforscher der Alpen beleben, dessen Unternehmungen und Reisen viele Ähnlichkeit mit denen der Gemsjäger haben.»[24]

Dieser Vergleich von Alpenforscher und Gemsjäger begegnet einem verschiedentlich im 18. Jahrhundert.[25] Der Gemsjäger bewegte sich seit jeher dort, wohin der Forscher im 18. Jahrhundert gerade erst aufbrach. Er war Vorbote; mit seiner Hilfe öffnete sich die Bildungselite mental ihr bislang verschlossene Räume.

3. Indem er ihre Zugänglichkeit demonstrierte, entzauberte der Gemsjäger zwar die Region des Hochgebirges, dennoch blieb sie geheimnisvoll. Der Gemsjäger hat Anteil an den Mythen, die eine traditionelle Volkskultur mit bestimmten Figuren, darunter auch dem Jäger, verbindet. Unmerklich verschwimmen gerade bei dieser Gestalt die Grenzen zwischen Sage und Wis-

274
HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3