Page:Labi 1998.djvu/330

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dass man/frau damals, das heisst 1939, «von nichts gewusst hatte». Auf die sen Diskurs nimmt auch die Biographin Bezug: «wir [h]aben ni[chts] gewusst von Optionen und so, da [h]ätte [ich] gesagt [...] tut mir leid ich will da mit meine Leute bleiben aber da [bei der Umsiedlung] hatte ich schon einund-, einundhalb Kind» (1:23:17 f.). Wir können den Gedankengang der Biographin folgendermassen zusammenfassen: Hätte sie bei der Option und Umsiedlung schon gewusst, was nachher passiert wäre beziehungsweise welchen Vorwürfen sie später ausgesetzt war, wäre sie nicht nach Österreich gekommen. Dadurch glaubt sie sich auch aus der Verantwortung für die Deutschlandoption stehlen zu können.

Abschliessend soll im Zusammenhang mit dem «kollektiven Gedächtnis» in Südtirol noch auf Strategien zur sogenannten «Vergangenheitsbewältigung» eingegangen werden. Überpointiert können diese für Südtirol folgendermassen zusammengefasst werden: «da wir damals von nichts gewusst haben, brauchen wir uns auch keine Gedanken mehr darüber machen». Am vorliegenden Beispiel soll diese Frage jedoch genauer dargestellt werden, hätte Frau O. ja nicht nur eine nationalsozialistische, sondern auch eine faschistische Vergangenheit zu bewältigen gehabt. Doch obwohl sich die Biographin eigentlich heute noch über ihren Beruf als Beamtin definiert, scheint es ihr nicht notwendig, ihre Rolle im Faschismus zu überdenken. Damit über¬ nimmt sie Elemente des italienischen «kollektiven Gedächtnisses», welches über lange Zeit durch den Hinweis auf die eigene Befreiung vom Faschismus im Jahre 1943 eine Reflexion des eigenen Anteils daran nicht notwendig erscheinen liess. Offensichtlich interpretiert auch unsere Biographin ihre Umsiedlung als eigenständige «Befreiung» vom Faschismus. Ihr Anteil am Faschismus ist folglich nicht reflexionsbedürftig. Schwieriger wird hingegen der Umgang mit der nationalsozialistischen Vergangenheit. Obwohl für Frau O. - trotz der Übernahme zahlreicher Elemente nationalsozialistischen Gedankengutes28 - nicht direkt der Vorwurf des Nationalsozialismus abgeleitet werden kann, muss doch auf die Tatsache hingewiesen werden, dass die Südtirolerlnnen durch die Umsiedlung in einem engen Näheverhältnis zum Nationalsozialismus standen: die Option und Umsiedlung wurde durch NS-Institutionen organisiert und durchgeführt, die ersten - und weitgehend einzigen - Möglichkeiten zur Akkulturation wurden ebenfalls durch NS-Organisationen gewährleistet. Nicht zuletzt führte diese Tatsache nach Kriegsende auch zum Vorwurf der NS-Verwicklung von seiten vieler Österreicherinnen.[29] Dieser Tatsache trägt die Biographin auch in folgen

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SCHWEITZER: «... UND DANN SIND WIR HERAUSGEKOMMEN ...»