Page:Labi 1998.djvu/329

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Vorwurf, der in der nationalsozialistischen Gesellschaft auch lebensgefährlich sein konnte. Zunächst bot ihr die «Abstammung» des Ehemannes, sein «Deutschtum», Schutz und Gefahrenabwendung. Durch seinen Tod entfiel der Biographin neben der Kommunikationsmöglichkeit auch dieser Schutz.

Sie war nun zu Kontakten - wenngleich marginalen - mit anderen Personen gezwungen. Angesichts der negativen Erfahrungen mit vielen Mitgliedern der Aufnahmegesellschaft beschränkten sich die Freundschaften von Antonia O. jedoch auf andere Umsiedlerinnen, und dies, obwohl in der österreichischen Bundeshauptstadt die Anzahl der Umsiedlerinnen sehr gering war und deren Wohnorte vielfach in grösser Distanz zueinander lagen. Diese Wahl der Freundinnen spiegelt die Schwierigkeiten der Akkulturation in der neuen Umgebung wider, zeigt jedoch auch Spuren der eigenen Abgrenzung von den Bewohnerinnen Wiens. Diese Distanzierung findet darin ihren Ausdruck, dass Frau O. in den Nachkriegsjahren versuchte, sich eine neue «Identität» als Italienischlehrerin zu erarbeiten und damit verbunden eine neue Wertschätzung zu gewinnen. Italienischkenntnisse - als herausragende Fähigkeiten gegenüber dem Grossteil der Mitglieder der Aufnahmegesellschaft - bedeuteten in der neuen Umgebung Abgrenzungsmöglichkeiten und damit verbunden soziale Unabhängigkeit und Stärke, wodurch Anfeindungen besser begegnet werden konnte.

All diese Entwicklungen werden durch die Biographin heute als direkte Folgen der Umsiedlung gewertet. Daher erfolgte im nachhinein eine derartig markante Neubewertung der Migration, welche in deutlichem Kontrast zur ursprünglichen Wahrnehmung dieses Schrittes zum Zeitpunkt des Erlebens steht. Nicht zuletzt nimmt die Reinterpretation von Option und Umsiedlung auch Bezug auf das «kollektive Nachkriegsgedächtnis» Südtirols, welches mit dem Schlagworten «verdrängen und vergessen» zusammengefasst werden kann. In Südtirol dominierte der - letztlich erfolgreiche - Versuch, sich selbst als Opfer, verstärkt noch als doppelte Opfer von Faschismus und Nationalsozialismus zu begreifen. Anhand dieses Mythos wurden die Einwohnerinnen Südtirols zu passiven Opfern der Strukturen, besser der Diktatoren, und hatten - so die Darstellung - keine Handlungs- und Entscheidungsmöglichkeiten. Beginnend in den 1980er Jahren wurde von seiten kritischer Historikerinnen vermehrt die Verstrickungen der Bevölkerung in den Nationalsozialismus diskutiert und damit der einseitige Opfermythos in Frage gestellt. Die Reaktion im öffentlichen Diskurs war ein verstärkter Rekurs auf den Opfermythos, nun vor allem darauf konzentriert.

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3