Page:Labi 1998.djvu/324

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sammenhänge im Gegenstandsbereich und trägt dem Prozesscharakter und der Gestalt lebensgeschichtlicher Erzählungen Rechnung. Es geht folglich in der Interpretation darum, die dialektische Beziehung der Handlungen der Akteurlnnen und die diesen zugrunde liegenden Strukturen - welche vielfach den Handelnden nicht intentional zugänglich sind - sowie deren Bedeutung für die Wahrnehmung des gelebten Lebens zu rekonstruieren.


DIE OPTION UND UMSIEDLUNG DER SÜDTIROLERINNEN UND SÜDTIROLER[18]

Im Jahre 1939 wurden zwischen dem nationalsozialistischen Deutschen Reich und dem faschistischen Italien Verträge zur Eliminierung eines potentiellen Konfliktherdes abgeschlossen. Dabei handelte es sich um das mehrheitlich deutsch- und ladinischsprachige Gebiet der heutigen Autonomen Provinz Bozen, welches nach dem Ersten Weltkrieg als Kompensation für den italienischen Kriegseintritt an der Seite der Entente an Italien angegliedert worden war. Die Verträge beinhalteten, dass sich die deutsch- und ladinischsprachigen sowie teilweise auch die italienischsprachigen Südtirolerlnnen bis Ende des Jahres 1939 zwischen der deutschen und der italienischen Staatsbürgerschaft entscheiden mussten. Erstere - eine Option für Deutschland - beinhaltete eine Umsiedlung - im NS-Jargon «Rucksiedlung» - ins Reich, während die Option für Italien einen Verbleib in der Provinz unter Verzicht auf jeglichen Minderheitenschutz bedeutete. Einschränkend ist festzuhalten, dass nicht die Südtirolerlnnen die Optionsentscheidung zu treffen hatten, sondern lediglich der männliche Bevölkerungsanteil, da laut Options-vereinbarungen die sogenannten Familienoberhäupter für sich selbst, ihre Ehefrauen und die minderjährigen Kinder zu optieren hatten. Folglich konnten nur ledige volljährige Frauen beziehungsweise Witwen eine selbständige Entscheidung treffen.[19] Die Umsiedlung diente - neben der Beseitigung eines potentiellen Konfliktpunktes und der sogenannten «ethnischen Flurbereinigung» - noch einem weiteren Ziel: Deutschland war aus vorwiegend ökonomischen Gründen an einer vollständigen Umsiedlung interessiert. Es benötigte Arbeitskräfte in der Rüstungsindustrie beziehungsweise «Menschenmaterial» für den bevorstehenden Krieg und die «Germanisierung» der zu erobernden Gebiete im Osten.

Unter dem Einfluss einer Propagandaschlacht unter den Schlagworten

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SCHWEITZER: «... UND DANN SIND WIR HERAUSGEKOMMEN ...»