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Page:Labi 1998.djvu/304

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Bern; die Handwerksgesellen sollten vom Besuch aufrührerischer öffentlicher Versammlungen abgehalten werden.[38] Auf der anderen Seite aber regelte die Gesellenwanderung den Arbeitsmarkt; ein allgemeines Wanderverbot war daher keineswegs im Interesse der Behörde. Zudem konnten Beschränkungen erst recht zum Widerstand gegen den Staat reizen, weshalb etwa das Pfleggericht Hallein den «liebreiche [n] und milde [n] Regierungsschutz» als ein wirksameres Mittel gegen das «eingefangene Gift» betrachtete.[39]

Dieses «Gift» bewirkte, dass die ökonomischen und sozialen Veränderungen das Unerklärbare verloren. Die «Walz» galt nicht mehr als transitorischer Lebensabschnitt auf dem Weg zur Selbständigkeit; die Handwerksburschen sahen sich nun zunehmend als «Gesellenarbeiter». Somit erhielt der soziale Aufstieg eine neue Qualität. Er wurde nicht mehr mit dem Meisterstatus verbunden, sondern mit der Verbesserung der Arbeits- und Lebensverhältnisse innerhalb der Grenzen der Lohnarbeiterschaft.[40] Damit konnte auch die Binnendifferenzierung im Handwerk überwunden werden.

Das Vereinswesen ermöglichte diesen Transformationsprozess, und zwar aus folgenden Gründen: Erstens übernahmen Arbeiterbildungsvereine soziale Verknüpfungsfunktionen. Sie sammelten Handwerksgesellen unterschiedlichster Couleur und dienten letztlich auch als lokale Dachverbände der - ebenfalls von den Gesellen dominierten - Fachvereine. Diese Funktion als zentrale Lenkstellen ist als Ausdruck des neuen Gesellenbildes zu verstehen. Sollte doch mit der Schaffung effektiver Vertretungskörper die Stellung der Handwerksgesellen im Produktionsprozess gestärkt werden.[41] Um 1870 existierten allein im Untersuchungsraum 20 Arbeiterbildungsvereine und 17 Fachvereine.[42]

Zweitens entstanden infolge dieser neuen Vereinsfunktionen überregionale berufsübergreifende Verbindungen. Zunächst fand auf Arbeitertagungen eine Annäherung der Vereine statt, schliesslich wurden gemeinsame Organisationen gegründet. In den 1870er Jahren waren etwa Arbeitertage in Innsbruck, Bozen, Meran und Dornbirn abgehalten worden. Delegierte aus Tirol, Vorarlberg und Salzburg diskutierten unter anderem über Streiks, Arbeitszeitverkürzung und das allgemeine Wahlrecht. Ein konkretes Ergebnis dieser Tagungen war schliesslich die Gründung eines «Tirolisch-Vorarlbergschen-Unterstützungsverbandes», eines Wanderunterstützungsverbandes, dem in kürzester Zeit Arbeiterbildungsvereine aus der gesamten Monarchie beitraten.[43] Eine ähnliche Organisation war Anfang der 1870er Jahre

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3