Historia Raetica/Vorwort

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Historia Raetica  (1866) 
by Jacob Antonius Vulpius
[ V ]

Vorwort

nebst biographischer Notiz.

Zu den bündnerischen Geschichtschreibern und Chronisten, deren Manuscripte nur selten noch[1] hie und da in den bescheidenen Privatbibliotheken unseres Landes zu finden sind, gehört auch  Jac. Ant. Vulpius, ein Zeitgenosse der allerstürmischsten Periode unserer Landesgeschichte, einer Periode, welche weil sie uns die höchste Erniedrigung brachte, auch die meiste Beachtung verdient, denen in solchen sind die wichtigsten Lehren für die Zukunft enthalten.

War dadurch die Herausgabe des Vulpius gerechtfertigt, dem als Originalschriftsteller ohne Frage eine Stelle in der Reihe der Publicationen gebührt, die der Herausgeber seit beinahe 20 Jahren[2] veranstaltete, so handelte es sich noch um die Frage, ob die Veröffentlichen in der Ursprache oder in der Uebersetzung stattfinden sollte. Für Letzteres sprach die bisherige Uebung, indem außer dem ursprünglich schon deutschen Ahorn[3], alle übrigen Chronisten theils aus dem Lateinischen, theils aus dem Italiänischen übertragen worden waren. Freilich lagen hiezu die Gründe auf der Hand, da sich in unserem Lande wenigstens für einen lateinischen Text fast keine, für einen italiänischen nur die wenig zahlreichen Leser unserer ennetgebürgischen Landschaften gefunden hätten. [ VI ]

Ganz anders gestaltet sich die Sache einem rätischen Urtext gegenüber. Hier haben wir die eigentliche und wahre Landessprache vor uns, wenn auch mehr und mehr von der deutschen überwuchert und in nicht allzu ferner Zeit von ihr ganz verdrängt zu werden bestimmt. Mag auch kein Einsichtiger sich solches verhehlen, so kann sich doch keiner, der für dergleichen aus der Urzeit stammende sprachliche Ueberlieferung Interesse hat, oder, noch tiefer eindringend, es wohl erwägt, daß das Erlöschen einer Sprache, gleichviel ob gewaltsam oder durch Einbringen und Ueberhandnahme eines fremden Sprachelements mit der Vernichtung einer Nationalität gleichbedeutend ist, eines wehmütigen Gefühls hiebei erwehren. Diese Empfindungen wird zum tiefen Schmerze und der Wunsch das Seinige dagegen beizutragen, bei jedem, der dieser ihrer Existenz bedrohten Nationalität angehört, zur heiligen Schuld. Gerade in diesem Jahrzehnt fühlen alle gebildeten Rätoromanen dieses lebhafter als je und glaubte man auch durch Gründung eines Vereins für rätische Sprache dieser Empfindung wohl kaum mehr als Worte leihen, am wenigsten aber dem überwiegenden Germanismus einen wirksamen Damm entgegensetzen zu können, so ist doch nicht zu läugnen, daß wann das unausbleibliche Verhängniß durch irgend etwas noch in seinem Gange aufgehalten werden kann, solches nur durch Pflege der Sprache und Hervorsuchen ihrer litterarischen Schätze geschehen kann.

Beide Punkte sind sehr ernstlich in das Auge zu fassen. Zum ersten gehört außer der Feststellung einer richtigen Schreibart, nach allen Regeln der Grammatik und Syntax, vor Allem die Reinigung der Sprache von allen Fremdwörtern, die sich diesseits der Berge in einer ganz ungerechtfertigten Fluth (denn die eigenen Worte brauchten nur hervorgesucht zu werden) eingenistet haben. Sind diese Eindringlinge entfernt, die verstoßenen Kinder des Hauses zu ihrem Rechte gelangt und die ganz verloren gegangenen durch andere ersetzt, was mit der Herausgabe eines vollständigen und kritischen Handwörterbuchs Hand in Hand geht, – so mögen Grammatiken für die beiden Hauptidiome die Regeln festsetzen, nach denen gesprochen werden soll. [ VII ]

Hinsichtlich des zweiten Punktes, unserer Litteratur, ist seit dem vorigen Jahrhundert, wo die alten Erbauungsbücher in ihren letzten Ausgaben und Abdrücken erschienen, nichts mehr geschehen, – denn das Erscheinen einzelner kleiner Broschüren und jetzt auch drei politischer Blätter hat nicht mit dem zu schaffen, was unsere Altvorderen sprachen und schrieben, – ebenso wenig die Herausgabe von Schulbüchern und der grammatikalischen Vorarbeiten der Herrn Pallioppi, Heinrich und Bühler, sowie endlich einiger Originalgedichtsammlungen, obschon solches Alles zur Fortbildung der Sprache und Schaffen neuer Worte und Bezeichnungen des Seinige redlich beiträgt. Und doch haben wir auch eine, wenn gleich schwach vertretene geschichtliche Litteratur, von welcher aber außer Otto v. Porta's Cronica rætica (1742 erschienen und schon ziemlich selten) und noch zwei historische Gedichte in ladinischem Dialecte von Herrn Alf. v. Flugi jüngst dem Publikum durch den Druck zugänglich gemacht wurden.

Es galt somit durch des Vulpius Herausgabe im Urtext, der vielleicht später noch eine, ebenfalls nur im romanischen Manuskript vorhandene Reformationsgeschichte folgen dürfte, auch nach dieser Richtung hin etwas thun und es läßt sich hoffen, daß der Hauptzweck dieser Publicationen, den Sinn des Volkes für seine Landesgeschichte zu wecken, schon deßhalb nicht völlig aus dem Auge gerückt scheint, weil unsere noch rätisch sprechende Bevölkerung auf fünfzigtausend Seelen steigt.

Noch ein Wort über des Verfassers Schreibart. Der Herausgeber hatte zwar zwei verschiedene, in der Hauptsache aber doch mit einander übereinstimmende Copien der Originalhandschrift vor sich. Daher kommt es, daß unklare Stellen sich selten durch Vergleichung aufhellen ließen. Ohne dem Urtext Gewalt anzuthun, mußten sie in statu quo bleiben, – eine, weil ganz ohne Zusammenhang in Sinn und Grammatik, ganz ausgelassen werden. Zudem leidet der Stil an vielen Härten und Wiederholungen. Auch glaubte der Herausgeber nichts ändern zu sollen. Nach einer andern Richtung aber zeichnet sich die Schreibart votheilhaft aus, sie mischt nämlich mit äußerst geringen Ausnahmen keine fremden Worte ein, [ VIII ]wie dieses überhaupt jenseits der Berge, zumal im Unterengadin, wenig der Fall ist.

Hier noch die geringen biographischen Notizen, welche über den Verfasser sich sammeln ließen.

Wie Vulpius in seinem Werkchen (S. 37) selbst angibt, waren seine Voreltern und Verwandte mit Einschluß seiner selbst während 162 Jahren Prediger zu Vettan. Wie weit diese Zahl richtig geht, bleibt dahingestellt. Doch geht der Kirchenhistoriker à Porta offenbar viel zu weit, wenn sie als Fabel erklärt. Vulpius meldet hierüber wie folgt.

Im Jahr 1532 wurde die neue Lehre zu Vettan eingeführt und Andr. Tus als Prediger daselbst berufen. Er bekleidete diese Stelle 39 Jahre, also bis 1571. Nun folgten die vier Vulpius (Großvater, Onkel, dann Vater des Verfassers und endlich dieser selbst) während 162 Jahren, von welchen die 39 des Tus abgezogen, hingegen 11 Jahre, wo Andere predigten, hinzugezählt werden müssen. Dieß ergibt von 1632 an die Jahreszahl 1705, auf welche somit die Abfassung der hist. rætica fiele. Nun melden allerdings übereinstimmend Haller's Schw. Bibl. und Leu, daß ein Jac. Anton Vulpius 1706 gestorben sei. Hieraus folgt, daß wenn unser Verfasser wie behauptet wird, der nämliche Vettaner Geistliche Jac. Anton Vulpius sein soll, welcher an der nicht sehr ehrenhaften Rolle der reformirten Geistlichen beim Tusner Strafgericht nahm, er weit über 100 Jahre alt geworden sein müße. Aber bei den verschiedenen gleichnamigen Vulpius, welche sämmtliche Geistliche waren, ist es viel wahrscheinlicher, daß derjenige Vulpius, der dem Tusner Strafgericht beiwohnte, ein anderer als der unsrige war. Hiermit stimmt auch die Unwahrscheinlichkeit, wonach er noch vierig Jahre nach demselben, als bis 1658, gelebt haben müßte. Dazu kommt daß Salis-Marschlins diesen an den Faktionen betheiligten Pfr. Vulpius durchweg Anton und nicht Jac. Anton nennt. Auch würde und dieses fällt meisten ins Gewicht, wenn es die nämliche Persönlichkeit wäre, der Verfasser bei Erzählung der Flucht über den Kreuzlipaß es wohl beigefügt haben, daß er oder sein Vater es gewesen und hätte nicht blos beiläufig bemerkt, der Pfr. Jac. Anton Vulpius habe ebenfalls daran Theil genommen. [ IX ]

Andererseits weiß man es, daß ein Pfarrer von Vettan, ebenfalls des Namens Jac. Ant. Vulpius zur Zeit dieser politischen Unruhen zu den Eidgenossen flüchtete und 1623 die Pfarrei in Wangen im Cant. Bern erhielt. Derselbe scheint nicht mehr nach Bünden zurückgekehrt zu sein; schrieb eine Geschichte der Begebenheiten in Bünden von 1601–1607 in lateinischen Versen (eine Probe davon findet sich in Sprecher's Geschichte, Ausgabe Moor, I. 36) und hinterließ in seinem Sohne Johann Anton Vulpius einen tüchtigen Pädagogen, der 1653 Gymnasiarch in der Stadt Bern und Mitglied des Schulrates, auch Burger daselbst wurde. Das Geschlechte in Bern ist erloschen.

Es ist nun beinahe mit Sicherheit anzunehmen, daß der 1618 zu Tusis thätige Jac. Anton Vulpius kein anderer als eben dieser nach Bern geflüchtete ist. Eine weit geringere Wahrscheinlichkeit deutet auf des Pfarrers Vater hin, der vermuthlich Joh. Ant. hieß. Er war allerdings auch einer der flüchtigen evangelischen Geistlichen, und mußte 1629, wenigsten im Oberengadin, eine neue Zuflucht suchen, aber dennoch ist nicht glaublich, daß der Verfasser, welcher stets mit Pietät von seinem Vater spricht und viele Einzelheiten über ihn berichtet, von jener gefahrvollen Flucht über den Kreuzlipaß nicht näheres mitgetheilt haben sollte, wenn sein eigener Vater sich daren betheiligte.

Wenn, wie der Herausgeber glaubt, diese Schwierigkeit gelöst ist, so steht gar nichts im Wege, einerseits die Angabe des Verfassers, daß seine Familie 162 Jahre lang die Kirche zu Vettan versah, für richt (wenigsten liegt kein Widerspruch mehr darin) zu halten, andererseits aber in ihm auch denjenigen Jac. Anton zu erblicken, der im Vereine mit Jacob Dorta, seit 1650 Pfarrer zu Schuls, die heil. Schrift im Dialekte des Unterengadins übersetzte und deren erste Herausgabe 1679 besorgte. Wir nehmen um so weniger Abstand hiezu, als Dorta, nach dessen Verfassers eigener Angabe (S. 186) sein Schwager war und um so eher sich mit ihm in ein derartiges Unternehmen einlassen konnte.

Weitere Angaben, als die seines Todesjahres 1706, ein Jahr nach Abfassung der hist. rætica, mangeln gänzlich. Möglich, daß [ X ]aus den Archiven und Privatbibliotheken des Unterengadins noch Einiges über das Leben dieses Mannes, der namentlich als Bibelübersetzer so reichlichen Segen wirkte, erhältlich wären. Alle Nachrichten hierüber wird der Herausgeber von seinen Engadiner Mitbürgern mit Dank in Empfang nehmen.


Notas
  1. Die größte Büchersammlung im Lande, diejenigen der Kantonsschule, besitzt die gegenwärtige Handschrift nicht.
  2. Die erste derselben erschien mit Fort. v. Juvalt's Denkw. im Jahre 1848.
  3. Sechste Publication.