Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen (1998)/02

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Mobilität in der Geschichte der Alpen. Ergebnisse und Tendenzen der Forschung
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[ 15 ]MOBILITÄT IN DER GESCHICHTE DER ALPEN


ERGEBNISSE UND TENDENZEN DER FORSCHUNG


Franz Mathis


Résumé


La mobilité dans l'histoire des Alpes. Résultats et tendances de la recherche


L’état de la recherche sur la mobilité dans l’histoire des Alpes peut être résumé de la façon suivante: les migrations saisonnières, temporaires et définitives dans et hors des Alpes sont relativement bien connues dans leurs grands traits, mais pas encore de façon exhaustive il est vrai. Nous savons par contre bien moins de choses sur les motifs concrets, le déroulement et les conséquences des migrations: à leurs propos, nous pouvons nous référer d’une part à des affirmations très générales et de ce fait partiellement imprécises encore, et d’autre part à quelques analyses différenciées de micro-histoire, une approche très prometteuse pour l’avenir. Ce sont avant tout des recherches de ce dernier type dont nous avons encore besoin en grand nombre, afin que nous puissions peut-être une fois aboutir à une connaissance approfondie des migrations et des migrants dans les Alpes.


Die folgenden Überlegungen sollen – gemäss den Intentionen der Veranstalter des Kolloquiums – den allgemeinen Rahmen abstecken, in dem sich die anschliessenden Einzelstudien zur Migration in den Alpen bewegen werden. Sie sollen einen Überblick geben über den Stand der Forschung zur Frage der räumlichen Mobilität - die soziale Mobilität bleibt an dieser Stelle bewusst ausgeklammert. Auch werde ich mich dabei auf die Jahrhunderte zwischen dem Mittelalter und der Gegenwart beschränken.

[ 16 ]Grundsätzlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Migrationen zu gliedern und zu systematisieren. Man kann sie nach den Motiven unterscheiden, die ihnen zugrunde liegen, nach der zeitlichen Dauer oder nach der räumlichen Distanz, die überwunden wurde. Allgemein bekannt dürfte die von Jean-Frangois Bergier in Histoire et Civilisations des Alpes vorgenommene Klassifizierung sein: Er unterscheidet vier Typen, und zwar die inner-alpine Wanderung, die Migration zwischen alpinen und voralpinen Landschaften, die Wanderbeziehungen zwischen den voralpinen Gebieten diesseits und jenseits der Alpen und schliesslich die Fernwanderungen zwischen Italien auf der einen und dem westlichen und nordwestlichen Europa auf der anderen Seite.[1]

Anders als bei dieser Einteilung, die naturgemäss auch die Menschen mit einbezieht, die ausserhalb der Alpen lebten, möchte ich mich im folgenden auf die Alpenbewohner selbst und auf sie allein beschränken und sie nicht nach der Distanz, sondern nach der Dauer ihrer Wanderungen unterscheiden. Obwohl jede Einteilung mit einer gewissen Willkür behaftet ist, scheint mir eine Unterteilung in drei Gruppen sinnvoll: Die erste umfasst die relativ kurzen Wanderungen von einem, zwei oder fallweise auch mehreren Tagen; die zweite beinhaltet die sogenannten saisonalen oder temporären Wanderungen, die von einigen Monaten bis zu einigen Jahren dauern konnten; und die dritte Gruppe schliesslich bezieht sich auf die endgültigen oder definitiven Wanderungen. In jeder einzelnen Gruppe kann nach den Motiven der Wanderungen gefragt werden, nach der Art und Weise, wie sie sich vollzogen, sowie nach den Auswirkungen, die sie auf die Wandernden, aber auch auf deren Herkunfts- und Zielorte hatten.

Beginnen wir mit der ersten Gruppe der kurzen Wanderungen. Sie waren zweifellos die häufigsten und daher so selbstverständlich, dass sie kaum Gegenstand eigener Forschungen geworden sind. Zu ihnen zählte der Besuch des städtischen Marktes durch die Landbewohner ebenso wie der tägliche oder wöchentliche Weg zur Arbeit in ein nahegelegenes Bergwerk, eine Manufaktur, eine Fabrik, ein Büro. Ausser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen wurde eine Stadt auch aus anderen Gründen aufgesucht, war sie doch vielfach Sitz der politischen Verwaltung, der Rechtsprechung, des Bildungs- und später auch des Gesundheitswesens und des Kulturlebens. Und obwohl die Landgemeinden in der Regel ihre eigenen Kirchen hatten, konnte es in dünner besiedelten Gebieten durchaus Vorkommen, dass schon der Besuch des Gottesdienstes einen längeren Fussmarsch zur Folge [ 17 ]hatte, der sich - wenn es sich um einen Wallfahrtsort handelte - über mehrere Tage erstrecken konnte.

Naturgemäss hingen die Dauer und die Entfernungen, die bei derartigen Wanderungen zurückgelegt wurden, in hohem Masse von den verwendeten Verkehrsmitteln ab: Eisenbahn, Automobil und Flugzeug verkürzten den zeitlichen Aufwand und verlängerten die Distanzen, sie erweiterten aber auch die Ursachen kurzfristiger Wanderungen um die breite Palette der freizeit-orientierten Mobilität, die in früheren Jahrhunderten den Adeligen, Geistlichen und bürgerlichen Eliten der Gesellschaft Vorbehalten war.

Wie weit das Feld ist, das sich in dieser Hinsicht der historischen Forschung erschliesst, braucht kaum eigens betont zu werden. Auch wenn derartige kurzfristige Wanderungen - wie bereits erwähnt - so selbstverständlich sind und waren, dass sie einer wissenschaftlichen Untersuchung nicht würdig genug erschienen, so gehörten sie mindestens ebenso sehr zum Leben und zur tagtäglichen Mobilität früherer und jetziger Generationen wie die spektakuläreren, weil nicht so selbstverständlichen Wanderungen der zweiten und dritten Gruppe. Wie fruchtbar eine intensivere Beschäftigung mit den kürzeren Wanderungen sein kann, hat etwa Bernard Amouretti mit seiner Untersuchung der Leute gezeigt, die auf der Strasse zwischen Le Bourg d’Oisans und Briançon unterwegs waren.[2] Zwar geht es bei ihm vor allem um die von mir bisher noch nicht genannte Gruppe von Reisenden, deren Tätigkeit am unmittelbarsten mit Mobilität verbunden war, nämlich um die Fuhrleute, Hausierer und andere Handeltreibende. Doch bieten sich - sofern die Quellen es erlauben - auch andere Bevölkerungsteile für derartige Fallstudien an. Ethnologen, Soziologen und Humangeographen kommen als Autoren dafür ebenso in Frage wie Wirtschafts-, Sozial- und andere Historiker. Aber auch für den Fall, dass man sich vorerst auf die von Amouretti untersuchten Berufsgruppen beschränken will - man könnte sie um die ebenso mobilen Bettler, Schmuggler und Vagabunden erweitern -, so bleiben genügend Alpentäler, in denen die Einheimischen ebenfalls einen Grossteil des inneralpinen wie des transalpinen Verkehrs besorgten und daher nicht nur um ihrer selbst willen, sondern auch im Sinne einer vergleichenden, allgemeine Erkenntnisse fördernden Geschichtsschreibung untersucht werden sollten.

Wesentlich besser, obwohl noch lange nicht ausreichend erforscht sind die Wanderungen der zweiten Gruppe, nämlich die saisonalen und temporären Wanderungen. Schon seit Jahren sind sie Gegenstand der historischen [ 18 ]Alpenforschung und sie gelten als geradezu typisch für die alpine Bevölkerung früherer Jahrhunderte. Sie lassen sich in den Westalpen ebenso beobachten wie im Osten, im Winter ebenso wie im Sommer. Lange Zeit wurden sie vorwiegend mit der relativen Übervölkerung einzelner, wenn auch keineswegs aller Alpentäler in Verbindung gebracht: mit den mangelnden Arbeits- und Erwerbsmöglichkeiten, welche die alpine Landwirtschaft seit dem 15./16. Jahrhundert einer wachsenden Bevölkerung bot. Das strukturelle Ungleichgewicht zwischen den vorhandenen Ressourcen und der daraus zu ernährenden Bevölkerung, das durch fallweise Krisen wie Kriege und Missernten noch verstärkt werden konnte, habe einen Teil dieser Bevölkerung geradezu gezwungen, vorübergehend auszuwandern, um nicht zu verhungern. Derartige Überlegungen sind vor allem, aber keineswegs nur im Zusammenhang mit dem Massenphänomen der Schweizer Söldner, die zwischen dem 14. und dem 19. Jahrhundert in ausländischen Armeen dienten, angestellt worden.

Allerdings ist die fast zum Gemeinplatz gewordene These von der Auswanderung aus Not in den letzten Jahren speziell von französischer Seite in Frage gestellt worden. Laurence Fontaine, Anne-Marie Granet-Abisset und andere haben darauf hingewiesen, dass nicht nur die nackte Not, sondern auch andere, zum Teil geradezu gegenteilige Motive hinter der temporären Migration standen.[3] Sie sprechen von einer «émigration de la réussite» und meinen damit die Hoffnung und die Erwartung, ausserhalb des eigenen Tales nicht nur überleben zu können, sondern sogar zu einem höheren Lebensstandard zu gelangen als es zu Hause möglich gewesen wäre: Hoffnungen, die etwa durch den Aufstieg so manchen Hausierers zu einem wohlhabenden Geschäftsmann genährt wurden.

Auf diese Weise lässt sich auch erklären, warum gewisse Gegenden gelegentlich sowohl Aus-als auch Einwanderungsgebiete sein konnten: Die Arbeitsplätze - und dies gilt zum Teil noch heute - die für die Zuwanderer zum Überleben gerade ausreichten, waren den Einheimischen zu wenig lukrativ, weshalb sie auswärts besser bezahlte Erwerbsmöglichkeiten suchten. Anders ausgedrückt könnte man sagen, dass bei der «émigration de la misère» die sogenannten Push-Faktoren, bei der «émigration de la réussite» dagegen die Pull-Faktoren im Vordergrund standen. Wie sich das eine mit dem anderen vermischen konnte, lässt sich etwa am Beispiel der sogenannten Schwabenkinder beobachten, die jedes Jahr im Sommer aus Graubünden, Vorarlberg und dem westlichen Tirol in das süddeutsche Alpenvorland [ 19 ]zogen, um den dortigen Bauern bei der Arbeit zu helfen. Einerseits reduzierten sie - «émigration de la misère» - die Zahl der Familienmitglieder, die ernährt werden mussten, andererseits konnten sie mit dem wenigen, das sie in der Fremde verdienten - «émigration de la réussite» -, zur Steigerung des Familieneinkommens beitragen: eine Strategie, derer sich zahlreiche land-wirtschaftliche Saisonarbeiter auch in anderen Teilen der Alpen bedienten.[4]

Gerade die familialen Zusammenhänge sind jedoch ein weiterer Faktor, den es bei der Untersuchung der Motive für temporäre Migration zu berück-sichtigen gilt. Die Erfahrungen einzelner Familien konnten die Entscheidung für oder gegen eine Wanderung entscheidend mitbeeinflussen, und dies gilt naturgemäss auch für ganze Gemeinden und Täler, in denen sich geradezu eine Tradition der Auswanderung entwickelte, mit zum Teil ganz spezifischen Berufsfeldern. Derartige Erfahrungen, die durchaus unterschiedlich ausfallen konnten, helfen aber auch, unterschiedliche Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen zu erklären, und vermögen uns gleichzeitig vor einer allzu deterministischen Sicht menschlichen Verhaltens - etwa nach dem Motto «Übervölkerung zieht automatisch Auswanderung nach sich» - zu bewahren; denn es gab durchaus auch andere Strategien, mit denen auf eine relative Übervölkerung reagiert werden konnte.

Ein Mittel, um der - wie ich es nennen möchte - «deterministischen Falle» zu entkommen, ist in der mikroökonomischen oder mikrogesellschaftlichen Analyse zu sehen. Quantitative Angaben, bei denen etwa die Bevölkerungsdichte zur Zahl der Auswanderer in Beziehung gesetzt und kausale Zusammenhänge herzustellen versucht werden, bleiben nur allzuoft unscharf und unbefriedigend; Detailstudien auf lokaler oder sogar auf familialer Ebene helfen oft weiter, wo makrogesellschaftliche Analysen versagen, und vermögen das Migrationsverhalten oft besser zu erklären. Gerade in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu tun.

Fallstudien auf lokaler und familialer Ebene sind jedoch nicht nur bei der Motivforschung, sondern insbesondere auch beim Ablauf und bei den Auswirkungen von Migrationen gefragt. Natürlich ist es wichtig zu wissen, wie viele Schafe im Rahmen der Transhumanz über den Winter an die feuchten, aber schneefreien Küsten des Mittelmeeres oder in die Poebene und über den Sommer auf die grasreichen Bergweiden der Alpen getrieben wurden und wie viele Hirten sie begleiteten. Wie aber gestaltete sich im einzelnen das Wanderleben dieser Hirten oder jenes ganzer Familien, die im Frühsommer mit ihren Kühen in höhere Regionen auf die sogenannten [ 20 ]Mayenhöfe zogen und dort verblieben, bis ihr Vieh von den Almen zurückkehrte? Was wissen wir von den Wanderhändlern und Hausierern, von den Bauhandwerkern und Kesselflickern, von den Zuckerbäckern, Scherenschleifern und Schuhmachern, von den wandernden Gesellen, Dienstboten und Fabrikarbeitern, von den zahlreichen Söldnern und den weniger zahlreichen Studenten, und den vielen anderen, die entweder saisonal in den Winter oder Sommermonaten oder temporär über mehrere Jahre von zu Hause wegzogen? Wie sehr waren die Migrationen eine Angelegenheit allein der Männer, welche Rolle spielten dabei die Frauen?

Welche Gebiete der Alpen von den Wanderungen betroffen waren und ob es sich eher um viele oder um wenige Menschen handelte, ist inzwischen weitgehend bekannt. Weniger gut erforscht ist dagegen die Art und Weise, wie die Saisonwanderer lebten, welche Beziehungen sie zur Heimatgemeinde und zu den eigenen Familien aufrecht erhielten und wie sie sich in der Fremde zurechtfanden, obwohl inzwischen auch dazu bereits einige wertvolle Untersuchungen wie etwa die von Françoise O’Kane über die Leute aus Bessans vorliegen.[5] Sie zeigen den Weg, den es zu gehen, die Methoden, die es anzuwenden, und die Quellen, die es zu erschliessen gilt. Und wiederum sind es weniger die makrogesellschaftlichen als vielmehr die mikro-gesellschaftlichen Studien, die eine Beantwortung der eben gestellten Fragen versprechen. Je grösser die Zahl derartiger Untersuchungen und je grösser die Zahl der darin behandelten Menschen und Familien, um so eher werden wir in der Lage sein, allgemeinere Aussagen über die konkrete Wanderungs-realität in den Alpen zu treffen.

Ähnliches gilt für die Auswirkungen der Migration. Mit der Feststellung, dass bei einem Auszug eines Grossteils der männlichen Bevölkerung um so mehr Arbeit für die zurückbleibenden Frauen anfiel oder dass mit der Rückkehr der Migranten auch fremde Ideen und Bräuche in die Alpentäler Eingang fanden, darf man sich nicht zufrieden geben. Auch hier ist es notwendig, differenzierte Untersuchungen anzustellen, die einzelne Orte und Familien zum Gegenstand haben.

Vieles von dem, was bisher zur Erforschung der saisonalen und temporären Migration gesagt wurde, kommt auch bei der dritten Gruppe von Wanderungsbewegungen zum Tragen, den definitiven oder endgültigen Auswanderungen. Dies ergibt sich schon allein dadurch, dass die definitive Migration nicht immer von vornherein als solche geplant war, sondern häufig aus einer temporären Wanderung resultierte: Es liegt auf der Hand, dass ver [ 21 ]schiedene unvorhergesehene Umstände in der Fremde zu einem endgültigen Wegbleiben von zu Hause veranlassen konnten, ganz gleich ob es sich dabei um wirtschaftlich bedingte Wanderungen handelte, um eine politisch motivierte Flüchtlings- oder Truppenbewegung oder um die zunächst ebenfalls nur vorübergehend intendierte Abwesenheit der Studenten.

Auch im Fall der definitiven Auswanderung sind die wichtigsten Wanderungsbewegungen aus den Alpen sowie ihre Hauptursachen - wirtschaftliche, religiöse oder politische -, ihre Ziele und auch die zumindest ungefähre Menge der davon Betroffenen weitgehend bekannt. Man weiss, dass es seit der Entstehung der Städte im Hochmittelalter auch in den Alpen geradezu permanent zu einer Abwanderung vom Land in die Stadt kam, ohne welche die städtische Bevölkerung nicht nur nicht wachsen, sondern wegen der meist negativen natürlichen Bevölkerungsbilanz nicht einmal ihren Stand hätte halten können. Seit langem bekannt und auch schon relativ gut untersucht ist die mittelalterliche Wanderungsbewegung der Walser nach Graubünden und Vorarlberg, die ein vielleicht noch nicht so bekanntes Gegenstück in der politisch und wirtschaftlich motivierten Auswanderung Tausender Südtiroler fand, die im Zuge der sogenannten Option zwischen 1939 und 1944 ihr Land verliessen. Wir wissen, dass sowohl kriegerische Ereignisse wie etwa der Dreissigjährige Krieg als auch die Reformation ab dem 16. Jahrhundert zu grösseren Bevölkerungsverschiebungen in den Alpen führten. Und auch die grossen Auswanderungsbewegungen nach Übersee im 19. und zum Teil auch noch im 20. Jahrhundert haben bereits in die historische Alpenforschung Eingang gefunden. Dennoch scheint es verfrüht, schon jetzt eine abschliessende, alle Gegenden und alle Epochen mit einbeziehende Bilanz der definitiven Emigration im und aus dem Alpenraum ziehen zu wollen.

Und dies gilt erst recht, wenn es darum geht, diese Wanderungsbewegungen in ihren vielfältigen Facetten zu erfassen. Zwar sind da und dort auch schon die spezifischeren Motive, der Ablauf und die Folgen der Auswanderung genau untersucht worden. Wieviel jedoch gerade in dieser Hinsicht noch erforscht werden kann, zeigt etwa der eindrucksvolle Sammelband über die Auswanderung aus demTrentino nach Vorarlberg gegen Ende des vorigen Jahrhunderts.[6] Hier wurden auf 600 Seiten von insgesamt 18 Autoren vor allem die Auswirkungen der Auswanderung von einer alpinen Region in eine andere auf die Auswanderer selbst und auf die Gastbevölkerung, in die sie sich bald besser, bald schlechter integrierten, einer detaillierten [ 22 ]Analyse unterzogen. Ähnliche Untersuchungen können natürlich - was zum Teil bereits geschehen ist - auch für andere Massenwanderungen über grössere Entfernungen vorgenommen werden; sie könnten und sollten sich aber auch mit der meist kürzeren Land-Stadt-Wanderung beschäftigen, die bislang - wohl aufgrund der dürftigen Quellenlage - ähnlich stiefmütterlich behandelt wurde wie die anfangs angesprochenen Ein- und Mehrtageswanderungen.

Wie breit das Spektrum der durchaus interessanten Aspekte sein kann, die in diesem Zusammenhang der Erforschung wert sind, lässt sich etwa an der Studie von Anne-Marie Granet-Abisset über die Leute des Queyras erkennen.[7] Sie befasst sich nicht nur mit den verschiedenen Aspekten der Auswanderung selbst, sondern geht noch einen Schritt weiter und will wissen, wie sich die Auswanderung in der Erinnerung der verbliebenen Bevölkerung festgesetzt hat, wobei Realität und Erinnerung durchaus auseinanderklaffen können.

Die Situation in der Erforschung der Mobilität in der Geschichte der Alpen lässt sich daher etwa folgendermassen zusammenfassen: Insbesondere die saisonalen, temporären und endgültigen Migrationen in und aus den Alpen sind in grossen Zügen bereits recht gut, wenn auch noch nicht erschöpfend erfasst. Wesentlich weniger wissen wir hingegen über die konkreten Motive, den Ablauf und die Folgen der Wanderungen: Hier liegen zum einen mehrere, stark generalisierende und daher zum Teil noch zu unscharfe Aussagen vor, daneben aber auch bereits einige differenziertere, mikrogesellschaftliche und - wie ich meine - zukunftsweisende Analysen. Es sind vor allem Untersuchungen dieses letzteren Typs, von denen wir noch vieler bedürfen, um vielleicht einmal zu einem umfassenden Bild der Migration und der Migranten in den Alpen zu gelangen. Die folgenden Beiträge werden zweifellos dazu dienen, einige der noch offenen Lücken zu schliessen, noch viel mehr aber sollten sie - und dies gilt für die ganze Tagung - weitere und umfangreichere Studien zur Mobilität in der Geschichte der Alpen anregen.


Anmerkungen

  1. 1 Jean-François Bergier, «Le cycle médiéval: des sociétés féodales aux états territoriaux», in: Paul Guichonnet (éd.). Histoire et Civilisations des Alpes I.Toulouse 1980, S. 163-264, hier S. 196 ff.
  2. 2 Bernard Amouretti, Les hommes et la route: de Briançon à Bourg d'Oisans. Aix-en-Provence 1994.
  3. 3 Vgl. etwa Laurence Fontaine, Le voyage et la mémoire, Lyon 1984 oder Anne-Marie Granet-Abisset, La route réinventée. Les migration des Queyrassins au XIXe et XXe siècles, Grenoble 1994.
  4. 4 Zu den Schwabenkindern v. a. Otto Uhlig, Die Schwabenkinder aus Tirol und Vorarlberg, Innsbruck 1983.
  5. 5 Françoise O’Kane, Gens de la terre, gens du discours. Terrain, méthode et réflexion dans l’étude d’une communauté de montagne et de ses émigrés, Bâle 1982.
  6. 6 Karl-Heinz Burmeister, Robert Rollinger (Hg.), Auswanderung aus dem Trentino - Einwanderung nach Vorarlberg. Die Geschichte einer Migrationsbewegung mit besonderer Berücksichtigung der Zeit von 1870/80 bis 1919, Sigmaringen 1995.
  7. 7 Wie Anm. 3.