Page:Labi 1998.djvu/5

From Wikisource
Jump to navigation Jump to search
This page has been proofread.

zogen, um den dortigen Bauern bei der Arbeit zu helfen. Einerseits reduzierten sie - «émigration de la misère» - die Zahl der Familienmitglieder, die ernährt werden mussten, andererseits konnten sie mit dem wenigen, das sie in der Fremde verdienten - «émigration de la réussite» -, zur Steigerung des Familieneinkommens beitragen: eine Strategie, derer sich zahlreiche land-wirtschaftliche Saisonarbeiter auch in anderen Teilen der Alpen bedienten.[4]

Gerade die familialen Zusammenhänge sind jedoch ein weiterer Faktor, den es bei der Untersuchung der Motive für temporäre Migration zu berück-sichtigen gilt. Die Erfahrungen einzelner Familien konnten die Entscheidung für oder gegen eine Wanderung entscheidend mitbeeinflussen, und dies gilt naturgemäss auch für ganze Gemeinden und Täler, in denen sich geradezu eine Tradition der Auswanderung entwickelte, mit zum Teil ganz spezifischen Berufsfeldern. Derartige Erfahrungen, die durchaus unterschiedlich ausfallen konnten, helfen aber auch, unterschiedliche Reaktionen auf ähnliche Herausforderungen zu erklären, und vermögen uns gleichzeitig vor einer allzu deterministischen Sicht menschlichen Verhaltens - etwa nach dem Motto «Übervölkerung zieht automatisch Auswanderung nach sich» - zu bewahren; denn es gab durchaus auch andere Strategien, mit denen auf eine relative Übervölkerung reagiert werden konnte.

Ein Mittel, um der - wie ich es nennen möchte - «deterministischen Falle» zu entkommen, ist in der mikroökonomischen oder mikrogesellschaftlichen Analyse zu sehen. Quantitative Angaben, bei denen etwa die Bevölkerungsdichte zur Zahl der Auswanderer in Beziehung gesetzt und kausale Zusammenhänge herzustellen versucht werden, bleiben nur allzuoft unscharf und unbefriedigend; Detailstudien auf lokaler oder sogar auf familialer Ebene helfen oft weiter, wo makrogesellschaftliche Analysen versagen, und vermögen das Migrationsverhalten oft besser zu erklären. Gerade in dieser Hinsicht bleibt noch viel zu tun.

Fallstudien auf lokaler und familialer Ebene sind jedoch nicht nur bei der Motivforschung, sondern insbesondere auch beim Ablauf und bei den Auswirkungen von Migrationen gefragt. Natürlich ist es wichtig zu wissen, wie viele Schafe im Rahmen der Transhumanz über den Winter an die feuchten, aber schneefreien Küsten des Mittelmeeres oder in die Poebene und über den Sommer auf die grasreichen Bergweiden der Alpen getrieben wurden und wie viele Hirten sie begleiteten. Wie aber gestaltete sich im einzelnen das Wanderleben dieser Hirten oder jenes ganzer Familien, die im Frühsommer mit ihren Kühen in höhere Regionen auf die sogenannten Mayen-

19
MATHIS - MOBILITÄT IN DER GESCHICHTE DER ALPEN