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geführt hat. Für die Südtirolerinnen in einer italienischen Stadt war es möglich, zwischen Italienerinnen und Faschisten zu differenzieren - eine Unterscheidung, die in diesen Jahren von der Bevölkerung in Südtirol kaum vollzogen wurde, wobei es diese unreflektierte Gleichsetzung war, die nach Kriegsende das Zusammenleben von deutsch- und italienischsprachigen BewohnerInnen des Landes lange Zeit erschwert hat.

Unmittelbarer mit der Dimension des Politischen konfrontiert wurden jene Südtirolerinnen, die bei jüdischen Familien in Dienst waren. So erzählte zum Beispiel Anna Pinggera, die bei einer jüdischen Familie in Ancona beschäftigt war, dass ab Mitte der 1930er-Jahre immer wieder jüdische Freunde und Bekannte aus Deutschland für einige Tage zu Besuch kamen. Sie befanden sich auf der Flucht aus dem nationalsozialistischen Deutschland und begegneten deshalb dem deutschsprachigen Dienstmädchen der Familie mit Misstrauen - für Anna war dies schliesslich auch ein Grund die Stelle zu verlassen und nach Hause zurückzukehren. Jene Frauen, die noch im Jahr 1938, also zu dem Zeitpunkt, als auch das faschistische Italien Rassegesetze verabschiedete, im Dienst bei jüdischen Familien waren, waren Zeuginnen von deren Flucht ins Ausland. Sie wurden also direkt mit den Auswirkungen der rassistischen Politik Hitlerdeutschlands und Italiens konfrontiert, wobei ihre Reaktion allerdings mit jener der Mehrheitsbevölkerung identisch war: Flucht und Vertreibung wurden zur Kenntnis genommen, lösten aber kaum Entrüstung oder bohrendes Nachfragen aus. In diesen Fällen rückte die Politik zwar näher, aber sie betraf immer noch nicht unmittelbar, oder nur am Rande, etwa beim Verlust der Arbeitsstelle, die eigene Lebensgestaltung.

Einen markanten Einbruch in diese selbstdefinierte «Politikferne» markierte die Option. Als im Jahr 1939 zwischen den beiden faschistischen Regierungen Deutschlands und Italiens das Abkommen über die Umsiedlung der Südtiro- lerInnen geschlossen wurde,[17] betraf dies viele Südtirolerinnen, die zu dieser Zeit in einer italienischen Stadt arbeiteten, ganz unmittelbar. Sofern sie nicht volljährig waren, war die Optionsentscheidung des Familienoberhauptes auch für sie bindend. Waren sie aber mindestens 21 Jahre alt, konnten sie selbst optieren. Für die Südtirolerinnen, die in einer italienischen Stadt arbeiteten, stellte sich die Optionsentscheidung mitunter aus einem völlig anderen Blickwinkel dar, als für ihre Herkunftsfamilie beziehungsweise die Bevölkerung in Südtirol. Dies wird auch durch eine Reihe von zensurierten Briefen belegt.[18] Die faschistische Postzensur fing gerade in den Monaten der Option zahlreiche

Briefe zwischen den Südtiroler Dienstmädchen in den italienischen Städten und

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Histoire des Alpes - Storia delle Alpi - Geschichte der Alpen 2009/14