Page:H.M. Professor Unrat.djvu/17

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Sitzengebliebenen war sie sogar schon aus dem Vorjahr geläufig. Man hatte sie vor- und rückwärts gelesen, Szenen auswendig gelernt, geschichtliche Erläuterungen geliefert, Poetik an ihr getrieben und Grammatik, ihre Verse in Prosa übertragen und die Prosa zurück in Verse. Für alle, die beim ersten Lesen Schmelz und Schimmer auf diesen Versen gespürt hatten, waren sie längst erblindet. Man unterschied in der verstimmten Leier, die täglich wieder einsetzte, keine Melodie mehr. Niemand vernahm die eigen weiße Mädchenstimme, in der geisterhafte, strenge Schwerter sich erheben, der Panzer kein Herz mehr deckt, und Engelflügel weit ausgebreitet, licht und grausam dastehn. Wer von diesen jungen Leuten später einmal unter der fast schwülen Unschuld jener Hirtin gezittert hätte, wer den Triumph der Schwäche in ihr geliebt hätte, wer um die kindliche Hoheit, die vom Himmel verlassen, zu einem armen, hilflos verliebten kleinen Mädel wird, je geweint hätte, der wird nun das alles nicht so bald erleben. Zwanzig Jahre vielleicht wird er brauchen, bis Johanna ihm wieder etwas anderes sein kann als eine staubige Pedantin.

 

Die Federn kritzelten; Professor Unrat lugte, mit nichts weiter beschäftigt, über die gebeugten Nacken hinweg. Es war ein guter Tag, an dem er einen „gefaßt“ hatte, besonders wenn es einer war, der ihm „seinen Namen“ gegeben hatte. Dadurch ward das ganze Jahr gut. Leider hatte er schon seit zwei Jahren keinen der heimtückischen Schreier mehr „fassen“ können. Das

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