Page:H.M. Minerva.djvu/278

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Venezianern der Psychologe. Ich bevorzuge ihn, er ist sehr pariserisch, möchte ich sagen. Er war ganz vertieft in die Frau. Wie viele begrabene Leiden, wie viele erloschene Freuden leben in seinen Madonnen wieder auf! Welche Schicksale lassen sich entziffern aus all diesen schönen, sorgenvollen, verblaßten, glücklichen, sinnenden Gesichter! Auf jedem seiner Bilder fällt ein neues, ahnungsvolles Licht in Frauenseelen: in die Seelen von Müttern, Himmelsbräuten, inbrünstigen Heiligen, leidenden Liebenden und unbekümmerten Welt damen.“

„Sie vergessen Eine!“ rief Jakobus. Er begab sich zu den Plaudernden.

„Noch eine hat er enträtselt und aufbewahrt: die Madonna-Verderberin. Ich fah unlängst das Gemälde, auf dem Lande, in einer armseligen Kirche, verwahrlost und vergessen. Sie thront über Engeln und sie ist eine schöne, starke, wilde Herzlose, stolz auf die Herrschaft ihres Leibes über die Sinne der Männer, und aus schweren Lidern verächtlich hinunterblinzelnd auf den Heiligen, der zu ihren Füßen bettelt.

„Ein kleiner, verkommener Priester erzählte mir von ihr. Er war unrasiert, höhnisch, in schmutziger Soutane, und roch nach Wein. ,Wenn sie wüßten, Herr,‘ so sagte er. ,Das ist eine Schinderin. Noch nie hat sie eine Bitte erhört. Im Gegenteil, sie macht das Vieh krank und die Leute elend. Dabei bezaubert sie das Volk, daß es immer wieder zu ihr kommt. Es möchte sie steinigen, aber es muß kommen und beten. Ein Mensch in Angst bringt ihr wohl

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