Page:H.M. Minerva.djvu/140

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und mit weitoffenen Augen auf einer Stuhlecke gesessen hatten. Die Herzogin erwiderte:

„Ich kenne nur eine Aristokratie: die der Empfindung. Gemein nenne ich jeden, der häßlich empfindet. Stellen Sie einen Unbekannten vor eine Madonna des Bellini; es wird sich entscheiden, von welchem Stande er ist.“

Bei der Madonna der Frari begegnete sie einst einer jungen Frau mit eineni dreizehnjährigen Knaben. Sie war mager und von schlichter Eleganz; auf ihrer durchsichtigen Blässe glühten zwei Flecken zu beiden Seiten des eingesunkenen Nasenrückens. Ihre glänzend schwarzen Haare verdeckten die Hälfte der Ohren; daran hingen große, klare Brillanten. Ihre Hände waren schmucklos, bleich und zu lang, gleich denen der Heiligen. Gleich diesen klagten sie an. Und sie berührten das Kind wie die gemalte Frau das ihrige, mit ebensolcher Inbrunst und mit so wenig Kraft. Es war, als verlösche über der Fremden das Gold derselben Kuppel, ja, als bedecke der dunkel- und mattblaue Faltenmantel der Madonna auch sie. Je länger sie der Thronenden ins Gesicht starrte, desto ähnlicher ward sie ihr: hochmütig, voll eifersüchtig behüteten Leides, mit einem Munde schmal und eng verschlossen … Die Herzogin wünschte heftig, er moge für sie sich öffnen … Der Knabe hatte aschblondes Haar, halblang und in ein paar große Locken hinaufgebogen. Zwischen seinen willkürlichen, kurzen Lippen blitzte ein feuchter, weißer Streif. Sein Mund war vor Kühnheit fast thöricht. Seine Blicke eilten, blau und feurig,

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