Page:Labi 1998.djvu/2

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Grundsätzlich gibt es verschiedene Möglichkeiten, die Migrationen zu gliedern und zu systematisieren. Man kann sie nach den Motiven unterscheiden, die ihnen zugrunde liegen, nach der zeitlichen Dauer oder nach der räumlichen Distanz, die überwunden wurde. Allgemein bekannt dürfte die von Jean-Frangois Bergier in Histoire et Civilisations des Alpes vorgenommene Klassifizierung sein: Er unterscheidet vier Typen, und zwar die inner-alpine Wanderung, die Migration zwischen alpinen und voralpinen Landschaften, die Wanderbeziehungen zwischen den voralpinen Gebieten diesseits und jenseits der Alpen und schliesslich die Fernwanderungen zwischen Italien auf der einen und dem westlichen und nordwestlichen Europa auf der anderen Seite.[1]

Anders als bei dieser Einteilung, die naturgemäss auch die Menschen mit einbezieht, die ausserhalb der Alpen lebten, möchte ich mich im folgenden auf die Alpenbewohner selbst und auf sie allein beschränken und sie nicht nach der Distanz, sondern nach der Dauer ihrer Wanderungen unterscheiden. Obwohl jede Einteilung mit einer gewissen Willkür behaftet ist, scheint mir eine Unterteilung in drei Gruppen sinnvoll: Die erste umfasst die relativ kurzen Wanderungen von einem, zwei oder fallweise auch mehreren Tagen; die zweite beinhaltet die sogenannten saisonalen oder temporären Wanderungen, die von einigen Monaten bis zu einigen Jahren dauern konnten; und die dritte Gruppe schliesslich bezieht sich auf die endgültigen oder definitiven Wanderungen. In jeder einzelnen Gruppe kann nach den Motiven der Wanderungen gefragt werden, nach der Art und Weise, wie sie sich vollzogen, sowie nach den Auswirkungen, die sie auf die Wandernden, aber auch auf deren Herkunfts- und Zielorte hatten.

Beginnen wir mit der ersten Gruppe der kurzen Wanderungen. Sie waren zweifellos die häufigsten und daher so selbstverständlich, dass sie kaum Gegenstand eigener Forschungen geworden sind. Zu ihnen zählte der Besuch des städtischen Marktes durch die Landbewohner ebenso wie der tägliche oder wöchentliche Weg zur Arbeit in ein nahegelegenes Bergwerk, eine Manufaktur, eine Fabrik, ein Büro. Ausser aus beruflichen oder wirtschaftlichen Gründen wurde eine Stadt auch aus anderen Gründen aufgesucht, war sie doch vielfach Sitz der politischen Verwaltung, der Rechtsprechung, des Bildungs- und später auch des Gesundheitswesens und des Kulturlebens. Und obwohl die Landgemeinden in der Regel ihre eigenen Kirchen hatten, konnte es in dünner besiedelten Gebieten durchaus Vorkommen, dass schon der Besuch des Gottesdienstes einen längeren Fussmarsch zur Folge

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HISTOIRE DES ALPES - STORIA DELLE ALPI - GESCHICHTE DER ALPEN 1998/3