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Odysseus

(bei Livorno)

 

Das fernste Schiff, das abendlich besonnt
Mit schwarzen Masten fährt am Horizont,
Das meinen Blick mit starkem Zauber hält
Am Rande einer unsichtbaren Welt
—Mir träumt, sein Steuer läge in der Hand
Des göttlichen Odysseus, der sein Land
Durch aller Meere schreckenvolle Flucht
Mit namenlosem Heimweh liebt und sucht,
Der nächtelang, unbeugsam dem Geschick,
Des Himmels Sterne mißt mit scharfem Blick,
Der hundertmal verschlagen und bedroht
Sich sehnt und weiterkämpft durch Angst und Tod
Und sturmverfolgter hoffnungsloser Farht
Ziel und Vollendung ungebeugt erharrt.

Das ferne Schiff entgleitet meinem Blick
In dunkelblaue Meere; sein Geschick
Füllt meinen Traum und läßt ins Blaue ziehen
Mit leiser Frage seine Phantasieen.
Ist dort, wohin das Schiff des Dulders fährt,
Ist dort das Glück, nach dem mein Wunsch begehrt?
—Vielleicht!—Und welches Schiff führt mich ihm zu?
—Einstweilen irre, Herz, und dulde du!

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